Das Flüsschen Sbrutsch bildete mehr als hundert Jahre lang die Grenze zwischen dem österreichischen und dem russischen Kaiserreich

Foto: Börries Kuzmany

Halboffen, halbgeschlossen: Ansichtskarte aus Brody, einer der sechs einander gegenüber- liegenden Städte an der Grenze zwischen Österreich und Russland bis

Foto: Brodyer Regionalmuseum
Grafik: Standard

Wir stehen auf einer ukrainischen Fernverkehrsstraße, die Lemberg mit Kiew verbindet. Ein Verkehrsschild zeigt die Grenze zweier ukrainischer Verwaltungsgebiete an. Links und rechts biegt ein unscheinbarer Feldweg ab. Hier, mitten in der Westukraine, in einer Landschaft, die keinerlei Anzeichen einer geografischen Scheidelinie trägt, verlief rund 150 Jahre die Nordostgrenze der Donaumonarchie. 1772 hatten Österreich, Preußen und das Zarenreich begonnen, ihren Nachbarstaat Polen-Litauen aufzuteilen. Das Habsburgerreich zwackte sich ein Gebiet in der Größe des heutigen Österreichs ab. Dieses fortan Galizien genannte Kronland grenzte bis 1918 an Russland.

Eine zeitgenössische Postkarte vom Anfang des 20. Jahrhunderts mag symbolisch für die damalige österreichisch-russische Grenzregion stehen. Die Grenzsäulen, die Schranken und die Uniformierten betonen das Trennende - die Grenze ist bewacht und kann jederzeit geschlossen werden. Einiges spricht jedoch dafür, die Grenzbalken nicht als halbgeschlossen, sondern als halbgeöffnet zu sehen. Es handelt sich um einen Grenzübergang, also einen Ort, wo Menschen kommunizierten und Güter gehandelt wurden. In großer Eintracht posieren österreichische und russische Uniformierte zusammen mit Zivilisten.

Ein vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) unterstütztes Projekt am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien untersuchte diese einstige Grenze anhand von sechs einander gegenüberliegenden Städten. Dabei stellte sich heraus, dass die Grenzlage gleichzeitig trennend und verbindend wirkte.

In allen Orten wurden von einem Tag auf den anderen Grenzübergänge und Zollämter eingerichtet, was neue Arbeitsplätze und Verdienstmöglichkeiten in die Region brachte. Der legale Handel und insbesondere der Schmuggel prägten fortan diese Kleinstädte. Die Bevölkerungsstruktur war hier wie dort gemischt. Im eigentlichen Stadtgebiet lebten in erster Linie Juden und Polen, während im Umland klar die Ukrainer dominierten, wobei solche nationalen Zuschreibungen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts kaum eine Rolle spielten. Man definierte sich viel stärker über seine soziale Stellung, man war Bauer, Hausierer, Großhändler, Beamter oder Adeliger - in jedem Fall aber loyaler Untertan des österreichischen Kaisers oder des russischen Zaren.

Die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Staaten hatte für die Grenzstädte jedoch auch trennende Wirkung. Die Lokalverwaltung richtete sich auf die jeweiligen imperialen Zentren, Wien und St. Petersburg, aus. Während im Zarenreich bis zum Ersten Weltkrieg das Russische die dominante Sprache im öffentlichen Bereich blieb, löste in Galizien nach 1867 zunehmend das Polnische die bisherige deutsche Verwaltungssprache ab. Durch den sich nach 1848 im Habsburgerreich entwickelnden Rechtsstaat und infolge der erstarkenden Gemeindeautonomie entstand in den galizischen Kleinstädten eine politische Kultur, die in Russland gänzlich fehlte.

Konfessionelle Grenze

Ein zweites Unterscheidungsmerkmal war die konfessionelle Grenze. Juden und Römisch-Katholische gab es auf beiden Seiten. Die österreichische Regierung sympathisierte aber mit der mit Rom unierten Griechisch-Katholischen Kirche, der die meisten Ukrainer angehörten, während Russland die Unierte Kirche verbot und die orthodoxe Kirche im Grenzgebiet massiv förderte.

Die realen Lebenswelten der einstigen Grenzbewohner haben sich nicht erhalten, da im Zuge des Zweiten Weltkriegs die jüdische Bevölkerung ermordet und nach Kriegsende die Polen vertrieben wurden. Die in die Städte ziehenden ukrainischen Bauern brachten andere Lebensformen mit. Geblieben sind aber offensichtlich dennoch die mentalen Grenzen - die Grenzen im Kopf.

Das schlägt sich etwa in ukrainischen Wahlergebnissen nieder. Bei Wahlen erzielen im ehemaligen Galizien regelmäßig die westlich orientierten Kräfte deutlich bessere Ergebnisse. Auf der anderen Seite dominieren hingegen Kandidaten und Parteien, die stärker auf ein gutes Einvernehmen mit Russland setzen. Diese unterschiedlichen politischen Einstellungen spiegeln sich auch in unterschiedlichen Geschichtsnarrativen wider, wie sie etwa in lokalen Heimatmuseen sichtbar sind. Besucht man die Ausstellung in dem östlich der einstigen Grenze gelegenen Wolotschysk, stößt man auf sowjetische Heldensterne oder Lobgesänge auf die Erneuerung des Zuckerrübenkombinats. Überqueren wir den Sbrutsch - einen Wasserlauf, der über hundert Jahre lang Österreich von Russland trennte - ins einst habsburgische Pidwolotschysk, bekommt man eine ukrainisch-nationale, teils nationalistische Darstellung der Vergangenheit zu sehen.

Die konfessionelle Scheidelinie zwischen Unierten und Orthodoxen, die zur Sowjetzeit als ausradiert galt, verläuft heute wieder ungefähr entlang dieser unsichtbaren Grenze. Doch gerade die religiöse Zugehörigkeit ist ein schönes Beispiel, wie unscharf die innerukrainischen Trennlinien sein können. Der Schwerpunkt der Unierten Kirche liegt zwar weiterhin im ehemaligen Galizien, doch wurde der Metropolitansitz 2005 von Lemberg nach Kiew verlegt - sichtbares Zeichen eines gesamtukrainischen Anspruchs.

Eine Reise durch Kleinstädte entlang der ehemals österreichisch-russischen Grenze zeigt die Langlebigkeit historischer Grenzen - sie verwischen sich, werden unscharf, bleiben aber dennoch mentale Trennlinien auf den geistigen Landkarten. (Börries Kuzmany, Crossover/STANDARD-Printausgabe, 24.5.2011)