Bei dem bereits traditionellen Europa-Forum im Stift Göttweig hat der Schriftsteller Robert Menasse eindringlich und leidenschaftlich vor einem Wiederaufleben des Nationalismus in der EU gewarnt. Besonderes Aufsehen erregte indessen die weitgehend improvisierte Rede des ungarischen Außenministers János Martonyi, der sich auf den Spuren Menasses zur europäischen Identität Ungarns und zur Zurückweisung der nationalistischen Tendenzen sowie zugleich zur Verteidigung des Systems der offenen Grenzen in der EU bekannte. In der Schlussphase der vielkritisierten ungarischen EU-Ratspräsidentschaft legte der Altmeister der Budapester Diplomatie das Gewicht auf die Förderung der Donau-Strategie, des internationalen Projektes zur Verbesserung der Lage der Roma in Europa und der Aufnahme Kroatiens in die EU.

Gerade weil Ungarn in erster Linie wegen der von Viktor Orbán mit missionarischem Eifer betriebenen politischen Machtkonsolidierung und nicht durch eine von "linksliberalen Nestbeschmutzern orchestrierte Medienverschwörung" den "größten Verlust internationalen Prestiges seit 1989" (so die Neue Zürcher) ausgerechnet während der EU-Präsidentschaft erlitt, sind Auftritte wie jener Martonyis vor einem internationalen Publikum so bedeutend für das Image Ungarns. Leider erfolgte gerade jetzt ein neuer symbolträchtiger und vor allem für das ungarische Judentum schmerzlicher Schritt, der die Warnungen der regierungskritischen Denker, Dichter und Künstler, vom Pianisten András Schiff bis zu György Konrád und Péter Esterházy, vor den bedenklichen Folgen einer außer Rand und Band geratenen nationalistischen Propaganda vollauf bestätigt.

Die umstrittene Flurbereinigung beim Budapester Holocaust-Zentrum für Dokumentation und Erinnerung, einschließlich der ohne Gründe erfolgten Entlassung des Direktors hat wegen der diesbezüglichen Erklärung des zuständigen Staatssekretärs im Budapester Justizministerium, András Gál Levente nun bei angesehenen Historikern wie etwa beim ungarischstämmigen Professor der New Yorker Columbia Universität, István Deák, Empörung ausgelöst. Gál hatte nämlich die Änderung der ständigen Ausstellung gefordert mit dem geradezu unglaublichen "Argument", es sei eine historische "Schiebung", dass der Einmarsch der ungarischen Truppen in Siebenbürgen und der Südslowakei unter Horthy nach dem Wiener Schiedsspruch der Achsenmächte ... etwas mit dem Massenmord an den ungarischen Juden zu tun gehabt hätte. Diese, freilich auch mit der Präambel der neuen Verfassung übereinstimmende Version, wonach nach dem deutschen Einmarsch im März 1944 der ungarische Staat auch für das ungeheuerliche Verbrechen nicht verantwortlich gewesen sei, wird von allen internationalen und ungarischen Sachbüchern und Dokumentationen bestritten.

Bei seinem Prozess vor 50 Jahren erklärte Eichmann selbst, ohne die Ungarn wären die Deportationen nicht möglich gewesen. Zu Recht meint Professor Deák, bei der Judenvernichtung hätten sich die Ungarn weder schlechter noch besser benommen als viele andere Staaten. Was aber die Außenwahrnehmung Ungarns heute schlechter macht, sei das fast hysterische Festklammern an der ewigen Unschuld der Nation. (Paul Lendvai, STANDARD-Printausgabe, 24.5.2011)