Noch 2005 hätten ihre Ministerkollegen keinen Centime auf Christine Lagarde gesetzt: Von außen in die französische Politik gekommen, galt die damalige Außenhandelssekretärin als ausgesprochenes Mauerblümchen der Sarkozy-Regierung. Heute ist die 55-jährige Ex-Anwältin der Star nicht nur der gleichen Regierung, sondern ganz Frankreichs: Lagarde soll die französische Scharte des in Ungnade gefallenen Währungsfonds-Direktors Dominique Strauss-Kahn auswetzen und seine Nachfolge antreten.
Gestern kündigte sie selbst ihre Kandidatur an. Sie genieße die Unterstützung von Staatschef Sarkozy und Premierminister François Fillon und wolle alles tun, den Sukkurs aller 187 IWF-Mitglieder zu erhalten, meinte Lagarde. Damit machte sie klar, dass sie sich nicht nur als Kandidatin der EU versteht.
Die französische Ministerin hat eine für die Pariser Politik unübliche Laufbahn hinter sich. In der Normandie aufgewachsen und einst eine nationale Synchronschwimmerin, erhielt sie nach dem Tod ihres Vaters als 17-Jährige ein Stipendium in die USA, brachte es in der Folge bis an die Spitze der Anwaltskanzlei Baker & McKenzie.
Bestens vertraut mit der internationalen Geschäftswelt, wurde Lagarde 2005 Vize-Außenhandelsministerin. Ihren politischen Knigge lernte sie schnell. Dafür machte Sarkozy die geschiedene Mutter von zwei Kindern zur Landwirtschaftsministerin.
Ihren Aufstieg verdankt sie Fehlern französischer Politiker - nicht nur Strauss-Kahns. Nach einem schweren Patzer ihres Vorgesetzten, Wirtschaftsministers Jean-Louis Borloo, rückte sie erneut nach und wurde mit der Führung des prestigeträchtigen Pariser Wirtschaftsministeriums betraut.
Wer Lagarde gegenübertritt, staunt über die eindrückliche Persönlichkeit. Groß gewachsen, charmant, strahlt sie heute Autorität aus und behauptet sich in der harten französischen Politik so mühelos, wie sie nun den IWF-Posten anstrebt.
In der Sache wird sie aber überschätzt. Außer ihrer Begabung, sich allen Lagen anzupassen, ist ihre Bilanz dürftig. Die Finanz- und Wirtschaftsministerin hat es bis heute nicht geschafft, das Haushaltsdefizit in den Griff zu kriegen. Die Arbeitslosigkeit bleibt hoch, das Wachstum dümpelt.
Frankreich hätte tiefgreifende Reformen nötig, doch Lagarde schiebt Probleme vor sich her. Mutige, richtungsweisende Entscheide sind von ihr nicht bekannt. Nur Sarkozys Projekte führt sie aus. (Stefan Brändle, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 26.5.2011)