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Die Finanzmarktkrise und ihre Auswirkungen auf die Realwirtschaft untergräbt bisherige Gleichstellungserrungenschaften. Ein Phänomen, das bei vielerlei Krisen zu beobachten ist.

Foto: APA/Boris Roessler

Neulich beim US-Radiosender NPR: ein Generationsstreit, bei dem es um die Arbeitssuche geht. Alice Cherry verzichtet darauf, ihre Vorzüge zu rühmen. Sie setzt auf das Mitgefühl der Zuhörer: "Ich würde mich so gerne zur Ruhe setzen", seufzt die 62-jährige Volksschullehrerin aus Hillsborough, North Carolina, "aber meine in Aktien angelegte Altersvorsorge ist so gut wie nichts mehr wert".

Max Marion Spencer, ihr 18-jähriger Enkel, kontert mit seiner eigenen Odyssee: Er habe sich für alles beworben, doch selbst für Billigjobs in Schnellimbissketten oder Supermärkten wurde er abgelehnt. Das findet der junge Mann insofern frustrierend, weil er glaubt, besser geeignet zu sein als seine Großmutter: "Ich sage nicht, dass du keinen Job verdienst", murmelt er fast schon entschuldigend, "aber ich arbeite schneller aufgrund meines Alters und kenne mich auch besser mit Computern aus." So absurd der Schlagabtausch klingt, er veranschaulicht, wie hart umkämpft jede Arbeitsstelle in den USA ist.

Offiziell endete die Rezession im Juni 2009. Und doch ist immer noch fast jeder zehnte Amerikaner arbeitslos. Die Unternehmen können folglich wählerisch sein. Und damit kippt ein Gerüst, das den Arbeitsmarkt in der Neuen Welt lange vorbildlich machte: Nirgends gibt es so scharfe Antidiskriminierungsvorschriften zum Schutz der Beschäftigten.

Mit der Bewerbung fängt es an. Ein Porträtfoto, so wie es in Europa erwartet wird, ist im amerikanischen Lebenslauf unerwünscht, ebenso wie Angaben über Alter, Herkunft, Religion und Familienstand. Auch im Berufsalltag müssen die Unternehmen vorsichtig sein. Fallstricke lauern überall. Wenn Angestellte behaupten, aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, Alters oder einer Behinderung benachteiligt zu werden, müssen die Arbeitgeber mit drakonischen Strafen rechnen.

Die harte Linie gegen Diskriminierungen ist eine wichtige Lehre, die die Amerikaner aus der Geschichte der Rassentrennung gezogen haben. Umso erschreckender ist, dass die derzeitige Jobflaute vor allem diejenigen trifft, die eigentlich Anspruch auf besonderen Schutz hätten.

Für seine Freunde ist er ein Trottel: Rob N., gelernter Bauingenieur aus Toledo, Ohio, ist seit zweieinhalb Jahren arbeitslos. Trotzdem geht er weiterhin jeden Tag ins Büro - unentgeltlich. "Ich schätze mich glücklich, dass ich wenigstens das Gefühl habe, gebraucht zu werden", sagt der 56-Jährige tapfer, wohl wissend, dass die Arbeitssuchenden seiner Altersklasse alle im selben Boot sitzen. Noch nie gab es so viele ältere Arbeitssuchende; und noch nie waren deren Chancen so schlecht. Eine Statistik des Urban Institute besagt: Jeder dritte jüngere US-Arbeitssuchende findet innerhalb eines Jahres einen neuen Job; bei denjenigen, die 50+ sind, sinkt die Wahrscheinlichkeit auf 24 Prozent.

Auch Behinderte haben es schwer. Lisa Hinch steht vor einem Turm aus Pappkartons. "Ich bin so froh, hier zu sein, ich mache das seit fast 13 Jahren", sagt die 37-Jährige, die geistig zurückgeblieben ist. Sie lebt in einem Wohnheim. Aber sie ist gut im Kartonfalten. Ohne hinzuschauen, schaffen ihre Hände rund ein Dutzend Origami-ähnliche Knicke pro Minute. Lisa arbeitet für Clear Vision Optical, eine Firma aus Long Island, New York, die Brillengläser vertreibt. Und sie ist eine Ausnahme.

Marie Myer, Job-Coach bei der Assocation for the Help of Retarded Children, die behinderte Arbeitskräfte vermittelt, sagt: "Lange stellten die amerikanischen Firmen selbstredend Personal ein, das nur eine einzige Fähigkeit hat, jetzt aber erwarten sie, dass die selbigen zugleich saubermachen, den Laden öffnen und an der Kasse stehen." Die Folge: Immer mehr Behinderte fallen durchs Netz. Inzwischen ist mehr als zwei Drittel der gehandicapten US-Bürger arbeitslos; außerdem haben sie eine zehnmal höhere Wahrscheinlichkeit, entlassen zu werden.

Und was ist mit den Frauen? Ursprünglich traf die derzeitige Krise vor allem männliche Angestellte. Im Zeitraum 2007-2009 stellten sie insgesamt 60 Prozent der Geschassten, was damit zu tun hat, dass die Rezession vor allem Branchen wie den Autobau oder das Bauwesen heimsuchte. Bei der Aufholjagd haben jetzt allerdings die weiblichen Arbeitnehmer das Nachsehen: Nach Angaben des Bureau of Labor Statistics wird noch nicht einmal ein Zehntel der derzeit ausgeschriebenen Stellen letztlich an eine Frau vergeben. (Beatrice Uerlings aus New York, DER STANDARD/Printausgabe 27.5.2011)