Der Aufruf sei auch heute höchst aktuell, sagte sie zu Irene Brickner.

*****

STANDARD: Am 28. Mai ist Amnesty 50. Hätte Ihnen in den frühen 1960er-Jahren jemand gesagt, dass sich Amnesty zur weltweit wichtigsten NGO im Menschenrechtsbereich entwickeln würde - hätten Sie es geglaubt?

Grant: Nein, sicher nicht, denn als Peter Benenson 1961 mit seinen Artikel The forgotten prisoners im Observer den Anstoß für Amnesty gab, hatte er keine Organisation im Sinn. Anfangs zielten wir vielmehr auf die Überzeugung und Aktion Einzelner ab. Die Antwort darauf war aber so stark, dass sich eine Organisation entwickelt hat. 1964 jedoch hatte Amnesty in London gerade zwei Angestellte.

STANDARD: Was war das Neue an Benensons Appell?

Grant: Der fallbezogene Ansatz. Erstmals setzten sich Menschen konkret für die Befreiung anderer Menschen aus ungerechtfertigter Haft ein. Jede Amnesty-Gruppe kümmerte sich um drei Fälle: einen aus dem realsozialistischen Osten, einen aus dem Westen, einen aus der "Dritten Welt" .

STANDARD: Warum diese Dreierlösung?

Grant: Wegen des Kalten Krieges, der Teilung der Welt in Ost und West. Amnesty musste zeigen, dass es unparteiisch agiert. Das war damals schwer genug, denn viele Regierungen gingen davon aus, dass man Gefangenen, die man unterstützte, auch politisch nahestehe; das war nicht der Fall.

STANDARD: Warum wurde Amnesty in England gegründet? Hat das mit den ausgeprägten bürgerlich-demokratischen Traditionen zu tun?

Grant: Da bin ich mir nicht sicher - vielleicht war vielmehr die Persönlichkeit Peter Benensons der bestimmende Faktor. Um Ihnen eine vielleicht unpassende Antwort zu geben: England hatte für die Amnesty-Bewegung auch einen Nachteil: Nur wenige Menschen wussten, was es heißt, unter diktatorischen Verhältnissen zu leben, denn die Insel wurde jahrhundertelang nicht besetzt.

STANDARD: In welcher Atmosphäre, welchem intellektuellen Milieu ist Amnesty gegründet worden?

Grant: Unter den Gründern waren viele Quäker, Katholiken und Juden. Benensons Mutter kam aus einer russisch-jüdischen Familie, das hat ihn sicher beeinflusst. Das Schicksal der Juden in der Nazizeit war für ihn ein wichtiges Thema. Er selbst konvertierte 1978 zum Katholizismus.

STANDARD: Wie wichtig waren für Amnesty damals christliche Inhalte? Nelson Mandela, zu der Zeit in Apartheid-Südafrika inhaftiert und später dort Präsident, wurde nicht von Amnesty unterstützt, weil er Gewalt nicht ausschloss.

Grant: Es gab damals noch kein auskodifiziertes internationales Menschenrecht, also waren christliche Werte umso wichtiger. Die Entscheidung gegen eine Unterstützung Mandelas war für Amnesty überaus schmerzhaft. Die Aussicht, zwischen berechtigter und unberechtigter Gewaltanwendung unterscheiden zu müssen, erschien vielen untragbar.

STANDARD: Benensons Initialartikel wirkt heute höchst aktuell. Etwa, wenn er von einer ‚zunehmenden Tendenz, Nonkonformisten einzusperren‘ schreibt. Hat sich die Welt trotz Amnesty menschenrechtlich zu wenig weiterentwickelt?

Grant: Der Artikel ist visionär, denn er handelt zum Beispiel auch von Flüchtlingsproblemen. Ich würde sagen, es hat nach 1961 einen großen menschenrechtlichen Fortschritt gegeben. Dann kam der Backlash mit dem Krieg gegen Terror. (DER STANDARD, Printausgabe, 28.5.2011)