Nagwa Farag ist Vorstand der Association of Upper Egypt for Education and Development (AUEED), einer katholische Laienorganisation, die 35 Volksschulen in den Governoraten (Provinzen) Minia, Assiut, Sohag, Luxor und Qena in Oberägypten sowie einigen Schulen in armen Bezirken von Kairo betreibt. Die Schulen in den ärmsten Regionen Oberägyptens bilden den Ausgangspunkt für weitere umfassende Gemeindeentwicklungsprogramme. AUEED ist Projektpartnerin der Dreikönigsaktion der Katholischen Jungschar Österreich.

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Etwa 10 Prozent der ägyptischen Bevölkerung sind koptische orthodoxe Christen. Besonders in den oberägyptischen Städten und Dörfern sind sie einer subtilen Benachteiligung ausgesetzt. Für den Bau einer Kirche in Ägypten war unter Mubarak beispielsweise noch die Erlaubnis des Präsidenten notwendig. Die koptische Christin Nagwa Farag betont, dass sie im Umbruch in Ägypten eine Chance sieht, als ägyptische Bürgerin mit allen Ägyptern Gleichberechtigung zu fordern. Der Weg dorthin werde aber noch ein langer sein, da alte Strukturen und Vorurteile nicht so schnell aufbrechen werden.

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derStandard.at: Wie würden Sie die Lage der Christen in Ägypten beschreiben?

Nagwa Farag: Mubaraks Regime negierte die Existenz einer jeglicher Diskriminierung der koptischen Christen. Und in der Revolution und mit den Slogans der Revolution fanden all jene unterdrückten und tot geschwiegenen Ungerechtigkeiten ein Ventil. Es wurde sozusagen die Büchse der Pandora geöffnet. Aus der kamen natürlich auch fundamentalistische und extremistische Gruppen aus dem Untergrund. Verschiedenste Gruppen wie die Muslimbruderschaft oder die Salafisten die sich auch endlich artikulierten konnten. Die konfessionsgebundene Gewalt und Aggression ist eine Form davon. Es ist eine Umbruchszeit.

Dieser Umbruch hat aber hauptsächlich positive Seiten. Junge - ich meine nicht nur Christen - realisierten, dass sie Rechte als ägyptische Bürger haben. Und damit war es auch nicht mehr möglich, Diskriminierung zu verleugnen. Man musste einen Standpunkt dazu einnehmen. Und es ist gut zu sehen, dass immer mehr Menschen in Ägypten ein Zeichen gegen religiös motivierte Gewalt setzen, indem sie sie zumindest benennen und sie nicht für gut befinden.

derStandard.at: Was erwartet die christliche Community von der aktuellen Regierung?

Nagwa Farag: Die Übergangsregierung ist äußerst schwach und man sollte nicht viel erwarten. Ja, man muss was tun und business as usual ist nicht länger möglich. Aber dazu ist auch ein anständiger Vollzug der Gesetze notwendig. Eine langfristige Änderung wird am besten über die Zivilgesellschaft funktionieren. Wir haben erkannt, dass hier vor allem in die Jugendarbeit investiert werden muss. Die Slogans der Revolution müssen sozusagen auf die Realität heruntergebrochen werden. Was ist das Konzept von "Freiheit" und wie schaut das in der Realität aus? Wie lebt man diese Freiheit hinsichtlich Minderheiten-, Kinder-, Frauenrechten? Das ist ein Prozess, der lange dauern wird, aber wir wissen: Da ist Licht am Ende des Tunnels.

derStandard.at: Hat sich der Umgang mit den Tätern dieser konfessionsgebundene Gewalt nach dem Sturz Mubaraks verändert?

Nagwa Farag: Wie gesagt: Änderungen in den Gesetzen müssen sich erst einmal in der Realität auswirken. Das Problem sitzt tief. Obwohl in Ägypten das Bildungsniveau sehr hoch ist, gibt es eine Mehrheit, die es nicht gewohnt ist, offen auf Andersdenkende zuzugehen. Es ist deshalb sehr leicht, die Menschen mit Religion zu manipulieren. Jede Affäre einer Christin mit einem Moslem kann dazu führen, dass Kairo brennt. Was wir in unserer Organisation versuchen zu vermitteln - und zwar allen Kindern, wir sind nicht nur für Christen offen - ist eben diese Offenheit und Akzeptanz der Welt gegenüber.

Einige der Täter der Attacken auf die St.-Mina-Kirche in Kairo vom Mai wurden verhaftet, einige werden immer noch gesucht. Die Behörden legen  keinen großen Ehrgeiz an den Tag. Hätte es eine Attacke gegen eine Behörde in der alten Ära gegeben, hätte man die Täter sofort ausfindig gemacht, sogar im Sudan.

derStandard.at: Bei der Attacke, die sie ansprechen, griffen Salafisten die St.-Mina-Kirche im Kairoer Stadtteil Imbaba an und setzten sie in Brand. Was halten Sie von der Theorie, dass das gestürzte ägyptische Regime versucht, durch Anstiftung der Gewalt das Land ins Chaos zu stürzen und Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen?

Nagwa Farag: Mubarak sagte uns: entweder ich oder das Chaos. Wir wählten das Chaos. Viele Parasiten, die vom alten Regime profitierten, sind natürlich immer noch hier. In der Privatwirtschaft, den Behörden, bei den Sicherheitskräften. Und wir sehen nur die Spitze des Eisberges. Man weiß nie, aus welcher Richtung die Attacken geritten werden. Die Mubarak-Netzwerke sind wie eine Mafia, ein tiefer Staat. Wir können es nicht beweisen, aber es ist allgemein bekannt, dass dieser tiefe Staat Mubaraks Interessen vertritt. Vor allem die alten Leute aus den Sicherheitskreisen wissen, wie man solche Geschichten wie die, dass eine zum Islam konvertierte Christin in dieser Kirche festgehalten wurde, geschickt in Umlauf bringt. Und damit wird nicht so schnell Schluss sein.

derStandard.at: Warum existieren diese Konflikte und wo haben Sie ihre Wurzeln?

Nagwa Farag: Ursprünglich gab es keinen Konflikt. Der ägyptische Islam ist ein moderater, offener, kein fundamentalistischer. Aber in den späten 60er- frühen 70er-Jahren führte der Einfluss der Wahhabiten zu einer teilweisen Radikalisierung. Zahlreiche Ägypten wanderten in ölreiche Länder wie Saudi-Arabien ab und einige kamen mit den radikalen Einstellungen der Wahhabiten wieder. Während Sadat Präsident war (1970 bis 1981, Anm.) erfolgte eine weitere Radikalisierung, die Islamisten kämpften gegen seine kapitalistische Öffnungspolitik und die westliche Ausrichtung Ägyptens. In der Mubarak-Ära wurde negiert, dass es diese Brüche in der Gesellschaft gibt, folgedessen wurde auch nichts dagegen getan.

derStandard.at: Gab oder gibt es eine Radikalisierung unter den Kopten?

Nagwa Farag: Es gibt immer wieder solche Fälle. Auch im Mai in der Kairoer Kirche wehrten sich die Leute mit Gewalt. Aber was zählt ist, dass wir alle gemeinsam am Tahrir-Platz für unsere Freiheit als ägyptische Bürger gekämpft haben.

derStandard.at: Was erwarten Sie von den Wahlen im Herbst?

Nagwa Farag: Ich habe die Sorge, dass der Wahltermin zu kurzfristig angesetzt ist. Die Muslimbruderschaft ist sehr gut organisiert, viele kleine neue Parteien werden antreten. Am Land haben aber vor allem die Köpfe des alten Regimes ihre Kontakte und Strukturen. Ich habe den Eindruck, dass keine der bisher gemeldeten Parteien die Protestierenden des Tahrir-Platzes vertritt. Ägypten hat keine demokratische Tradition und es wird nicht von heute auf morgen anders werden. Ich befürchte, dass die Gewalt bleibt.

derStandard.at: Gibt es eine christliche Partei?

Nagwa Farag: Nein. Politische Ansichten haben für uns nichts mit Religion zu tun.

derStandard.at: Das sagen auch die Muslimbrüder und dass Mitglieder von ihnen nicht als Kandidat der Muslimbrüder antreten sondern als Privatpersonen.

Nagwa Farag: Das sagen sie. Aber alle wissen, dass diese Kandidaturen von den Muslimbrüdern finanziert werden. Die Muslimbrüder sind wirklich gut organisiert, auch wenn sie bisher im Untergrund waren. Und es wurde sehr wohl angekündigt, dass der Kandidat islamischen Ideen vertritt. Aber in Ägypten ist soviel im Wandel. Etlichen jungen Leuten in der Organisation sind diese Ideen mittlerweile zu verkrustet. Man wird sehen. (mhe, derStandard.at, 30.5.2011)