Er hätte sich rechtzeitig ins Ausland absetzen und damit retten können. Denn Michail Chodorkowski war gewarnt. Schon im Jahr 2000 machte der neue russische Präsident Wladimir Putin den einbestellten Oligarchen klar, dass sie mit Konsequenzen rechnen müssten, wenn sie sich in die Politik einmischten. Adressat der deutlichsten Drohung war Chodorkowski, Chef des Ölkonzerns Yukos und damals reichster Mann Russlands mit sozialem Engagement und politischen Ambitionen.

Chodorkowski wird bis 2016, dem Jahr der übernächsten Präsidentschaftswahlen, im Gefängnis bleiben. In zwei politischen Schauprozessen erhielt er wegen Steuerhinterziehung, Betrugs und Öldiebstahls insgesamt 14 Jahre Haft, die jüngst im Berufungsverfahren auf 13 Jahre reduziert wurden.

Jeden Tag bereue er seine Entscheidung, nicht zu fliehen, schreibt Chodorkowski in seinen soeben erschienenen Briefen aus dem Gefängnis. Und zugleich bereue er sie nicht. "Ich hätte mit einer Ausreise nicht leben können." Die Geschehnisse, die Chodorkowski in seinen Briefen reflektiert, seine Visionen für die Zukunft des Landes dokumentieren ein janusköpfiges Russland: jenes des realen Putinismus, in dem Unsicherheit und Misstrauen der Machtelite gegenüber dem eigenen Volk die Hauptantriebskräfte sind; und jenes, das in Pluralismus, Offenheit und Medienfreiheit den einzigen Weg zu nachhaltiger Modernisierung sieht.

Über den derzeitigen Präsidenten Dmitri Medwedew schrieb die prominente Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, mit der Chodorkowski wie mit anderen Intellektuellen einen Briefwechsel führte: "Wenn sie Chodorkowski freilassen, dann ist Medwedew ein unabhängiger Politiker. Falls nicht, ist er eine Marionette." Chodorkowski bleibt in Haft. Seine Briefe sind trotz der Abgründe, in die sie blicken lassen, Dokumente der Hoffnung. (Josef Kirchengast, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 1.6.2011)