Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall Chodorkowski, wonach die politische Strafverfolgung nicht ausreichend bewiesen wurde, war für viele Prozessbeobachter eine Überraschung. Haben doch Verteidiger, Menschenrechtler und westliche Politiker den Ex-Yukos-Chef bisher immer zu einem politischen Häftling hochstilisiert.

Dennoch bedeutet das Urteil nicht, dass Chodorkowski nicht vielleicht doch aus politischen Gründen einsitzt. Das Urteil bezieht sich nämlich nur auf den ersten Prozess aus dem Jahr 2005, in dem es um Steuerhinterziehung ging. Das Vorgehen der Justiz war damals zumindest sehr selektiv. Das Forbes-Millionärsranking wäre um einige Namen ärmer, würden bei allen die gleichen Maßstäbe angelegt.

Während sich der erste Prozess noch mit der tatsächlich etwas windigen Geschäftspraxis von Yukos rechtfertigen lässt, fällt es beim zweiten Prozess schwer, keine politischen Motive zu sehen. Zum einen begann der Prozess just rechtzeitig, um eine Entlassung im Wahljahr 2011 zu verhindern. Zum anderen drifteten die neuen Vorwürfe völlig ins Absurde ab. Das Geständnis einer Gerichtsmitarbeiterin, wonach der Richter Befehle von "oben" entgegengenommen und das Urteil gar nicht selbst verfasst habe, verstärken den Eindruck eines politischen Schauprozesses. Diesen Makel wird die russische Justiz auch nach dem EGMR-Urteil nicht los. (Verena Diethelm, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 1.6.2011)