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Die Kunst, Bekanntes neu zu lesen: Saskia Sassen.
"Information ist unschuldig, Wissen nicht." Es gebe eine Wissenshierarchie, sagt Saskia Sassen, die dadurch entsteht, dass soziale Gruppen die ihnen passenden Informations-Bits zusammen- und als natürlich hinstellen. Die Akteure könnten das umso überzeugender, je mehr sie über formalen und informellen Einfluss in der Gesellschaft verfügen.
Was die aus den Niederlanden gebürtige, an der New Yorker Columbia Universität lehrende Soziologin Sassen in ihrer Hedy-Lamarr-Lecture am Montag in Wien skizziert, klingt wie die Neuorientierung einer klassischen Ideologiekritik an den Gegebenheiten digitaler Vernetzung. Denn sie ortet Chancen, die Wissensagglomerate auseinanderzunehmen, neu zu verteilen und anders zusammenzusetzen. Das Internet, per se weder gut noch böse, ist für sie der Treibriemen, der Informationen in "neue Umlaufbahnen" befördern kann.
Beispiele für solche Änderungen im formalisierten Wissen findet Sassen bei den mehr und den weniger Mächtigen. Einerseits hat es die Finanzwelt ihr zufolge geschafft, der Politik ihre "finanzielle Logik" überzustülpen. Dem ist die Zerlegung bisheriger Prioritäten und sozialer Erfahrungen vorangegangen - die Neuzusammensetzung präsentiert sich hegemonial und naturgegeben zugleich (wie dies im Übrigen schon Gramsci an der herrschenden Klasse analysiert hat).
Rekonfiguration des Wissens
Andererseits kann die digitale Verbreitung von Informations-Bits gerade zur Demokratisierung von Sphären beitragen, die vorher hierarchisch kontrolliert wurden. Die Entwicklungen der letzten Monate in Ägypten haben gezeigt, dass die Protestbewegung durch die Rekonfiguration des vorhandenen Wissens "das Politische" - Sassen benützt den deutschen Ausdruck - neu definiert hat.
Das sei weit mehr als ein Facebook-Effekt gewesen. Da hätten die Medien ebenso wie die traditionellen arabischen Nachbarschaften mitgewirkt und das physische Nebeneinander auf dem Platz sowieso: alles Elemente, die vorhanden waren und plötzlich neu "gelesen" wurden. Solche Entwicklungen verfestigen sich mit der Zeit, "temporality" ist der Soziologin zufolge ein weiterer Faktor im Übergang von fluiden zu starren Wissensgebäuden. Auch Google und die Hacker haben einmal ganz informell begonnen, das Wissen im digitalen Raum zu zerlegen und neu zusammenzusetzen.
Sassens Lamarr-Lecture, von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Telekom Austria und dem Medienhaus Wien veranstaltet, macht auf "soziodigitale Formationen" aufmerksam, die dank des Internets zu neuer Wirkung kommen.
Wobei, wie Sassen einräumt, "nichtdigitale" Variablen nach wie vor eine wichtige Rolle spielen. Also immer noch zählt, wer wen in welcher Stellung wie gut kennt und hinter den Kulissen ausmachen kann, was nachher auf der öffentlichen Bühne gespielt wird. (Michael Freund/DER STANDARD, Printausgabe, 01.06.2011)