Auf dem Pekinger Friedhof Wan’an, wo Li Dazhao, einer der Gründer der KP, liegt ...

Foto: Standard/Erling

... finden sich auch die Gräber der Opfer des Tian-anmen-Massakers. Chemiestudent Duan Changlong starb am 4. Juni 1989. "Verunglückt im Morgengrauen" steht auf dem Grab.

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Die Jugendlichen drängen sich mit Filzstiften vor der roten Plakatwand: "Lasst uns treue Wächter der Partei sein", kritzelt ihr Lehrer Ding Le. "Ohne Kommunistische Partei gibt es kein neues China", verewigen sich seine Schüler. Jungpioniere mit roten Halstüchern und Fahnen umlagern die Grabstätte des Marxisten Li Dazhao. Sie legen Blumen vor seine Statue im Pekinger Ehrenfriedhof Wan'an (Zur ewigen Ruhe). Ihr Ziel ist die Gedenkanlage für Chinas frühen Kommunisten, der 1927 hingerichtet wurde. Die Partei feiert ihn auch in ihrem Schanghaier Geburtshaus als "einen ihren wichtigsten Begründer". Ohne die Vorarbeit Li Dazhaos wäre es im Juli 1921 in Schanghai kaum zur KP-Gründung gekommen.

Lis Grab wird so zu einer Anlaufstelle für die 90-Jahr-Feiern der KP Chinas, die mit ihren heute 80 Millionen Mitgliedern überall den Ton angibt. Millionen Chinesen müssen in Vorbereitung auf den Parteigeburtstag "rote Lieder" singen.

Nirgends indes wirken die Lobeshymnen so deplatziert wie vor dem Eingang zum Pekinger Ehrenmal. Nur 500 Meter weiter westlich des Märtyrerdenkmals liegen ganz andere Opfer der Partei. Der Weg zu ihnen führt an gepflegten Grabstätten für hochrangige Pekinger Würdenträger aus Republikzeiten vorbei bis an den Rand der Westberge. Dort finden sich neuere Gräber, ein halbes Dutzend darunter voller Anspielungen auf das Massaker des 4. Juni 1989.

Beim Forschungsassistenten Hao Zhijing steht "Gestorben am 3. Juni um Mitternacht", beim Chemiestudenten Duan Changlong "Verunglückt im Morgengrauen des 4. Juni", beim 29 Jahre alten Ingenieur Yuan Li "Plötzlich aus der Welt gerissen". Sie und andere wie die 25-jährige Ärztin Wang Weiping gehörten etablierten Pekinger Familien an, denen die Behörden nicht das Recht verwehren konnten, auf dem Friedhof an ihre Kinder zu erinnern. Seit 1999 erlaubt der Staat Müttern und Vätern, deren Kinder in der Nacht auf den 4. Juni im Kugelhagel der Armeetruppen starben, Gedenksteine aufzustellen und ohne öffentliches Aufsehen um ihre Kinder zu trauern.

Die Gräber sind so Zeugnisse für Glanz und Elend in der Geschichte der KP Chinas. Friedhöfe sind die einzigen Plätze in der Hauptstadt, wo die Erinnerungen an den 4. Juni und an die Getöteten des friedlichen Massenprotests nicht öffentlich ausgelöscht werden können. "Seit 22 Jahren verweigert die Partei den unschuldigen Opfern jede andere Form der Gerechtigkeit" , sagt Ding Zilin. Die 74-Jährige ist Sprecherin der "Mütter des Tiananmen", einer Hinterbliebenenorganisation, die mit Klageschriften an den Volkskongress oder Chinas Führung die Rehabilitierung ihrer Kinder und "Wahrheit, Entschädigung und Verantwortlichkeit" im Umgang mit den Ereignissen des 4. Juni fordert. Auch Frau Dings Sohn wurde damals getötet. "Er war zwei Tage zuvor 17 Jahre alt geworden", sagt sie.

Die einstige Professorin für Ästhetik hat 1995 ihre Sammlungsbewegung gegründet. Obwohl Peking den Armeeeinsatz bis heute als Niederschlagung eines Aufruhrs rechtfertigt und jede Debatte verboten hat, schlossen sich Ding Zilin 150 Angehörige von Getöteten an. Ihren jüngsten Brief an die Behörden haben sie unter den Titel gestellt: "Wir lassen nicht zu, dass die Seelen der Opfer entweiht und ihre Angehörigen entwürdigt werden."

Empört hat sie ein Versuch der Sicherheitsbehörden, die Hinterbliebenenvereinigung zu spalten. Sie boten einer der Familien Geld als Entschädigung, wenn sie von jetzt an schweigen würde. "Unseren Protestbrief haben 127 Angehörige unterschrieben", berichtet sie dem Standard. Warum seien es keine 150? "23 sind in den vergangenen Jahren gestorben." Die Mütter, die sich nicht einschüchtern lassen, konnten bisher 203 Todesopfer des Massakers identifizieren. Ding geht von vielen hundert Opfern aus.

Der 4. Juni 1989 verfolgt die Partei auch in ihren Vorbereitungen zur 90-Jahr-Feier. Eine neue offizielle, 1073 Seiten starke Parteigeschichte endet abrupt im Jahr 1978. Der in Millionenauflage verbreitete Bestseller zum Geburtstag trägt den Titel: "Warum hat es die KP in China geschafft?" Die Autoren antworten, dass die Partei selbst unter Maos verheerender Politik des "Großen Sprungs nach vorn" oder der Kulturrevolution litt, diese Fehler aber selbst korrigieren konnte. Sie fragen, warum die Partei nicht unterging wie die sowjetische KP oder Osteuropas Kommunisten, wie China die Marktwirtschaft umarmen und zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt werden konnte. Aber eine Frage ist so tabu, dass sie nicht einmal angedeutet wird: wie die Partei das Massaker des Tiananmen verüben konnte und wie sie es aufarbeiten will.

Die "Mütter des Tiananmen" beklagen in einem Brief auf ihrer in China blockierten Website die jüngste innenpolitische Verschärfung, mit der Peking auf die arabischen Revolutionen reagiert: "Überall bei uns werden nun die Kontrollen über die Zivilgesellschaft angezogen und die Repression intensiviert." Die Lage sei schlimmer als jemals seit dem 4. Juni 1989: "Stille herrscht im ganzen Land." Die unerschrockenen "Mütter des Tiananmen" zumindest lassen ihre Stimme nicht verstummen. (Johnny Erling aus Peking /DER STANDARD, Printausgabe, 6.6.2011)