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Kleider, Friseur, Maniküre: Russische Frauen gehen lieber in China als in Russland einkaufen. Mit dem Luftkissenboot geht es über den Grenzfluss Amur.

AP Photo/Xinhua, Qiu Qilong
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Lu Zhe wünscht sich eine Brücke über den Amur.

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Chan Yujia wird von ihren Kundinnen Katja genannt.

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Für Tagir Chuzijakow zählt das Verhältnis zu Asien.

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Blagoweschensk/Heihe - 750 Meter und zwei Stunden trennen die Zwillingsstädte Blagoweschensk und Heihe. Um zehn Uhr morgens besteigt Natascha Grigorjewna das Luftkissenboot Mars-21. Drei Minuten später steigt die Pensionistin mit der violetten Haarpracht um acht Uhr morgens wieder aus. Zwischen der russischen und der chinesischen Stadt liegt nicht nur der Fluss Amur, sondern auch eine Zeitzone.

Natascha kommt aus dem Dorf Teploosjorsk, in dem es ein Zementwerk und sonst nicht viel mehr gibt. Einkaufen fährt sie nicht in die 90 Kilometer entfernte Gebietshauptstadt Birobidschan, sondern nach China. Sie nimmt fünf Stunden Autofahrt und 2000 Rubel (rund 50 Euro) für die Fahrt über den Amur in Kauf.

Es zahlt sich trotzdem noch immer aus. "In Russland ist alles doppelt so teuer", sagt die 61-Jährige. Natascha kauft ein violettes Strickkleid um 250 Rubel (rund sechs Euro), Blusen um 100 Rubel (rund 2,5 Euro), Werkzeug für die Gartenarbeit und lässt sich Haare und Nägel machen.

Mit der Sowjetunion verschwanden im Fernen Osten nicht nur Vorzugskonditionen wie höhere Löhne, längerer Urlaub und früheres Pensionsalter, sondern auch die subventionierten Lebensmittellieferungen aus Moskau. "Mit dem europäischen Teil Russlands haben wir verglichen mit der Zeit vor 30 Jahren nur noch schwache Verbindungen. Die Beziehungen zu unseren asiatischen Nachbarländern werden immer wichtiger", sagt Tagir Chusijalow, Vize-Rektor für Internationales der Fernost-Universität in Wladiwostok. Seit dem Zerfall der Sowjetunion ist der größte Föderationsbezirk Russlands, der doppelt so groß wie die EU ist, weitgehend vom Rest des Landes isoliert.

Keine andere Region Russlands hat mit einem derartigen Bevölkerungsschwund zu kämpfen. Von 1991 bis 2002, dem Jahr der letzten Volkszählung, ist die Bevölkerung um 2,3 Millionen auf 6,7 Millionen gefallen. Bis 2016 wird ein weiterer Rückgang um 7,6 Prozent prognostiziert. Dem gegenüber stehen jenseits der rund 4000 Kilometer langen Grenze die prosperierenden chinesischen Regionen Jilin, Liaoning und Heilongjiang, in den rund 90 Millionen Menschen wohnen.

Die chinesische Grenzstadt Heihe lebt von den russischen Shoppingtouristen. Seit 1992 eine Freihandelszone in Heihe eingerichtete wurde, sprechen die Händler Russisch und schreiben ihre Preise in Rubel an. Die Boutique heißt Natascha, die Apotheke Swetlana, das Restaurant Putin und die Bar Kalaokej.

Chan Yujia, die sich von ihren russischen Kundinnen Katja nennen lässt, betreibt im größten Einkaufzentrum der Stadt ein Nagelstudio. "Meine Stammkundinnen kommen alle aus Blagoweschensk", sagt die 31-Jährige. Eine Pediküre kostet 20 Yuan (rund zwei Euro).

Doch Lu Zhe, Leiter der Kanzlei für internationale Angelegenheiten der Stadt, betont, dass Heihe mehr zu bieten hat als billigen Ramsch. Die Einnahmen von Heihe betrugen im vergangenen Jahr 700 Millionen Yuan (rund 17 Millionen Euro), davon stammen nur einige Dutzend Millionen Yuan aus dem Handel, rechnet Lu vor.

Bau, Dienstleistungen und Landwirtschaft sind die Haupteinnahmequellen in der 140.000-Einwohner-Stadt. Tatsächlich hat Heihe, vor zehn Jahren noch ein Dorf, ein Bauboom erfasst. Am Stadtrand entsteht gerade das Luxusviertel Glory Century, während auf der russischen Seite bröckelnde graue Plattenbauten aus den 60er Jahren dominieren.

Brückenbau auf eigene Faust

Freilich könnte der Austausch noch intensiver sein, gäbe es eine Brücke zwischen den beiden Städten, gibt Lu zu bedenken. Seit 1992 wird darüber diskutiert. Vor drei Jahren wurde sogar ein Abkommen unterzeichnet. Eine Brücke über den Amur gibt es bis heute nicht. Die russische Seite bremst. "Wenn wir jetzt auch noch eine Brücke bauen, dann kommen noch mehr Chinesen zu uns", sagt Jurij, der als Taxifahrer in Blagoweschensk arbeitet. In der 200.000-Einwohnerstadt gehören das größte Einkaufszentrum und das beste Hotel bereits einem Chinesen. Vor kurzem hat eine Chinesin die Brauerei übernommen.

Die Angst vor der "gelben Gefahr" sitzt in Russisch-Fernost seit dem blutigen Ussuri-Grenzkonflikt 1969 noch immer tief. Heutzutage fürchtet sich die russische Bevölkerung vor einer schleichenden Kolonialisierung. Auf Grund der hohen Arbeitslosigkeit drängen immer mehr Chinesen in die bevölkerungsarmen Gebiete Russlands.

Nach offiziellen Angaben lebten im Föderationsbezirk Fernost 2009 rund 370.000 Chinesen. Die illegale Einwanderung dürfte jedoch darüber hinaus gehen. Laut der russischen Migrationsforscherin Schanna Sajontschkowskaja könnten bis 2050 die Chinesen die Bevölkerungsmehrheit in Fernost stellen und in ganz Russland zehn Millionen wohnen.

Die Moskauer Zentralregierung reagierte deshalb bereits mit der Herabsetzung der Arbeitsquoten und mit dem Verbot ausländischer Händler auf den russischen Märkten. Trotzdem gibt es zahlreiche Gerüchte über chinesische Gemeinden im russischen Grenzgebiet. Im Komyschowka, einem Dorf in der Nähe von Chabarowsk, pflanzen Chinesen Gurken, Wassermelonen und anderes Gemüse.

Obwohl China den großen Nachbar bereits abgehängt hat, ist Russland für Lu aus der Stadtverwaltung in Heihe noch immer ein Vorbild. "Die Oktoberrevolution hat China den Kommunismus gebracht. Unser politische Konstruktion kommt von den Russen. Sie sind wie unsere Lehrer", sagt Lu. Dennoch könne China Russland bei der geplanten Modernisierung helfen.

Damit diese schneller voranschreiten kann, beginnen die Chinesen jetzt schon mal mit dem Bau ihrer Brückenhälfte über den Amur. (Verena Diethelm, STANDARD-Printausgabe, 7.6.2011)


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