In der griechischen Mythologie betrügt der Gott der Griechen seine Gattin Hera. Er fälscht hierzu sein Erscheinungsbild und verwandelt sich in einen Stier. Der Grieche bindet Europa an sich, indem er mit ihr in die stürmische Ägäis schwimmt. Mit Hinterlist entführt er Europa bis nach Kreta, wo er sich dann über einen längeren Zeitraum mindestens dreimal an ihr vergeht. Drei Söhne zeugt der Grieche mit Europa, doch für die Folgen seines Leichtsinns will er nicht aufkommen, und so muss Europa die Last alleine bewältigen. Sie setzt hierbei erfolgreich auf die Zahlungsbereitschaft eines Reichen.

Der Charme Europas muss damals umwerfend gewesen sein. Mit der griechischen Schuldenkrise verfliegt zurzeit die Liebe zu Europa. In der modernen griechischen Mythologie tauft Europa in Erinnerung an Zeus den ersten Sohn Griechenland, die beiden anderen nennt sie Irland und Portugal. Alle drei erben den Leichtsinn ihres Vaters und liegen daher heute noch Mutter Europa auf der Tasche. Nationale Populisten möchten Europa deshalb lieber vor Kreta ersäufen und gleich noch ein paar Ägäische Inseln als Vergeltung für die griechische List annektieren.

Eine Sanierung sieht anders aus

Widerspenstige Kinder brauchen bessere Erziehung, um der Zukunft gewachsen zu sein. Bestrafung hilft ihnen nicht. Natürlich haben sich Griechenland, Irland und Portugal unzulässig aus dem europäischen Familienvermögen bedient. Hierzu wurden sie aber von Verführern wie Goldman Sachs, Société Générale, HRE und WestLB animiert. Die Verführten konnten sich bei europäischen Versicherungen, Banken und Pensionskassen in vorher nicht gekanntem Umfang zu niedrigen Zinsen Geld beschaffen. Sie erlagen dieser Versuchung, zumal das billige Geld auch Chancen beinhaltete. Hierzu hätten die Kredite aber in rentable Zukunftsinvestitionen fließen müssen. Stattdessen wurden mit ihnen ineffiziente Strukturen im Steuersystem, im öffentlichen Dienst und in der Altersvorsorge erhalten.

Bedrängt von der mächtigen Lobby der Finanzwirtschaft, rettet Europa heute die Verführer und schädigt die Verführten. Zugegeben, diese Länder ließen sich gerne verführen. Eine Sanierung sieht aber anders aus. Mit dreistelligen Milliardenbeträgen stützt man indirekt die Finanzwirtschaft und mit über 70 Milliarden Euro erklärt sich die EZB völlig im Widerspruch zu ihrer Aufgabenstellung zur Bad Bank für europäische Staatsanleihen. Mit dem Griechenland auferlegten Sparprogramm schickt man die kleinen Mittelständler in die Insolvenz und die Bürger in Arbeitslosigkeit und Rezession. Mit einer schnellen Politik der Umschuldung Griechenlands, einem Marshall-Plan für die griechische Wirtschaft und einer griechischen Auszeit im Euro hätte man das griechische Problem gelöst, bevor die Besitzenden ihr Geld ins Ausland tragen. Mit rund zwei Prozent Anteil Griechenlands am europäischen BSP war dies keine Herkulesaufgabe. Durch die Verschiebung der Probleme auf der Zeitachse wird ihre Bewältigung von Tag zu Tag kostspieliger, und die Euroskepsis der Bürger wächst. Angesichts der Haushalts- und Dollarkrise in den USA ist der Außenwert des Euro nicht in Gefahr, der zukünftige innere Wert der meisten Währungen hoch verschuldeter Länder gibt Anlass zur Sorge.

Europa sollte jedem Europäer Opfer wert sein

Europa sollte jedem Europäer Opfer wert sein. Wir dürfen nicht vergessen, vor welchem Scherbenhaufen Europa vor 65 Jahren stand. Der Autor fuhr als Schüler mit kleinem Taschengeld viele Kilometer weit, um mit europäischer Begeisterung und voller Optimismus Charles de Gaulle und Konrad Adenauer zuzujubeln. Wer sind die heutigen europäischen Visionäre, denen seine Enkel ihr Taschengeld opfern? Ich sehe sie nicht. Stattdessen begegne ich Technokraten, Krämerseelen und europäischen Pessimisten. Wenn wir schon nicht mehr den Schwung für europäische Visionen aufbringen, lasst uns wenigstens das Erreichte erhalten. (derStandard.at 7.6.2011)