
Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Wiener Kanalisation fertig gestellt. Schon seit 1739 verfügte die Donaumetropole als erste Stadt Europas über ein vollständiges Kanalsystem. Dennoch kam es immer wieder zu Seuchen, da die Abwässer in die Wienflüsse geleitet wurden. Das änderte sich mit der Errichtung der Wienflusssammelkanäle.

Diese verbesserten aber nicht nur die Hygiene in der Stadt. Schon bald nutzten Obdach- und Arbeitslose die Röhren als Unterschlupf. Der "Wiener Untergrund" war geboren.

Es gab keine soziale Unterstützung, Arbeitslosengeld oder Krankenversicherung. Auch Unterkünfte für Obachlose waren noch nicht errichtet worden. Der Kanal bot für die vielen Menschen, die auf der Straße leben mussten, sowohl Bleibe als auch Einkunftsquelle.

Oft waren die Zugänge in Litfaßsäulen versteckt. Die Bewohner des Untergrunds stiegen durch eine Wendeltreppe in die Tiefe hinab.

Bei starkem Regen konnte die Kanalisation jedoch für Unerfahrene zur Falle werden. Auch giftige Gasgemische, etwa durch Benzin, führten wiederholt zu lebensgefährlichen Unfällen.

Die Journalisten Max Winter und Emil Kläger machten durch ihre Sozialreportagen auf die Situation der Menschen aufmerksam. Emil Klägers Buch "Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens" aus dem Jahr 1908 ist nun im danzig & unfried Verlag als Faksimile neu herausgegeben worden.

Emil Kläger war als Feuilletonist und Gerichtsberichterstatter für das Neue Wiener Journal und die Neue Freie Presse tätig. Ab 1904 besuchte er gemeinsam mit dem Fotografen Hermann Drawe regelmäßig die Unterwelt. Er berichtet von seinem ersten Abstieg: "Der 'Hausmeister' öffnete blitzschnell mit einem Dietrich die kleine eiserne Türe des Turmes und wir stiegen die enge, stark gewundene Treppe hundert Stufen hinab bis zur Sohle des Kanals."

Dort trafen sie auch sogenannte "Strottern", die Gegenstände aus dem Kanal fischten, um sie zu Geld zu machen. "Strotten" ist ein altwienerischer Ausdruck und bedeutet aussortieren.

In der österreichischen Bevölkerung stießen Klägers Reportagen auf großes Interesse: Von 1904 bis 1908 hielt er Lichtbildvorträge mit Unterstützung der Wiener Urania ab. Insgesamt kamen zu den rund 300 Terminen etwa 60.000 Interessierte.

"Dieses Buch ist den Elenden gewidmet, den Verdammten der Gesellschaft, den Lumpen von Schicksal Gnaden", schreibt der Autor in der Einleitung seiner Beschreibung des (Über)Lebens der Obdachlosen von Wien, das bereits mit einer Auflage von 10.000 Stück im Jahr 1908 erschien.

"Sehet Menschen, von Hunger gewürgt, von Krankheit verdorben, die im Kote nächtigen. Männer und Weiber in fliegenden Lumpen, gehetzt durch unsere blanken Straßen, deren Reichtum sie bejubeln könnten, hinabgedrängt in die Kloaken und auch dort noch verfolgt von der Wut unserer Ordentlichkeit", kritisiert Kläger weiter.

Die Szene auf diesem Foto findet sich auch in Klägers Beschreibungen wieder: "Wir fanden die ersten unterirdischen Bewohner, zwei 'Schrobs', wie die jüngeren Obdachlosen genannt werden. Sie lagen, da der Boden nass war, auf einem Haufen grobkörniger Steine, eng ineinander verschlungen."

Klägers Reportagen profitieren nicht nur vom Inhalt, sondern auch von seiner detaillierten und sprachgewaltigen Beschreibung von Wien vor dem Ersten Weltkrieg: "Es war eines Abends in der Brigittenau. Nach Mitternacht. Die Straßen lagen dunkel und tot. Ganz öde war der Stadtteil, schien insich versunken zu schlafen, wie die Armut schläft: In einem Krampf der Erschöpfung."

Und weiter heißt es: "Wie mutlos und innerlich krank stehen die Gebäude da, müde, als ob sie sich kaum aufrecht halten könnten. Durch die Poren ihrer Wände sickert es durch. Etwas Unsagbares, Hässliches."

Die wenigen Wärmestuben waren besonders in den kalten Monaten überfüllt. Die Menschen saßen in der Nacht so dicht gedrängt nebeneinander, dass für Bewegungen kaum Raum blieb. "Menschen, die in der Großstadt, die auf der offenen Gassn derfrieren. Is des gruselig und unangenehm, wann ma's zum Frühstück im Morgenblatt liest. Die Hund soll'n meinetwegen an Hunger und Elend krepieren, aber bitte, ... bitte sehr, unauffällig", hielt Kläger einen bitteren Kommentar eines obdachlosen Besuchers fest.

"Es sind nur lose Skizzen, just ein paar grelle Töne aus der Symphonie ihres Unglücks", beschrieb der Autor seine Reportagen über die Obdachlosen Wiens. Im Juni 1920 kam der Film "Durch die Quartiere des Elends und Verbrechens" in die Wiener Kinos, der auf Klägers Reportagen basierte.

Um 1934 wurde die "Kanalbrigade" gegründet, die härter gegen die Obdachlosen im Kanalsystem vorging. Auch durch die neu entstandenen Wohnheime für Obdachlose lebten immer weniger Menschen im Kanal.