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Proteste gegen Strauss-Kahn: Der Währungsfonds-Direktor glaubte sich in seiner New Yorker Hotelsuite (3000 Dollar/Tag) wohl zu allem berechtigt gegenüber einer afrikanischen Zimmerfrau (1200 Dollar/Monat).

Foto: REUTERS/SHANNON STAPLETON

Zuerst massierte der Bürgermeister ihre Sohlen. Eloïse (36) fand sich damit ab, da ihr neuer Vorgesetzter etwas von chinesischer Medizin murmelte. Als aber seine Hände die Beine hochwanderten, kündigte Eloïse. Mehr Geduld hatte eine andere Angestellte. Laura, wie sie sich in den Medien nennt, hatte mit viel Begeisterung für die Wahlliste des Bürgermeisters gearbeitet; beim nachfolgenden Anstellungsgespräch nahm sie hin, dass er ihr die Stiefel auszog. Beim Mittagessen musste sie ihre Beine auf seine Oberschenkel legen. Später begann er ihre Zehen unter dem Tisch auch in Anwesenheit anderer Mitarbeiterinnen zu massieren. Dann begannen seine Finger die Wandertour aufwärts. "Seine Liebkosungen wurden immer stärker, aber ich war wie gelähmt", erzählt Laura heute, ein Jahr nachdem sie endlich auch gekündigt hatte.

Unabhängig voneinander haben die beiden Frauen nun beschlossen, Klage auf sexuelle Belästigung einreichen. Warum erst jetzt? "Als ich sah, dass eine einfache New Yorker Zimmerfrau in der Lage ist, Dominique Strauss-Kahn anzugreifen, sagte ich mir, dass ich nicht das Recht habe zu schweigen", meint Laura. Besagter Bürgermeister von Draveil südöstlich von Paris ist nicht irgendwer: Georges Tron saß ein Jahr lang in der Regierung von Nicolas Sarkozy, wo er für die öffentliche Verwaltung zuständig war. Am Sonntag musste der Staatssekretär zurücktreten. Nicolas Sarkozy wollte sich nicht auch noch eine Sexaffäre aufhalsen wie die Sozialisten mit Strauss-Kahn. Dabei waren die Umtriebe des Fußfetischisten in seiner Partei UMP seit langem bekannt gewesen. Sarkozy sah aber noch 2010 nichts dabei, ihn in die Regierung zu holen. Denn Trons Verhalten ist in der Pariser Politik gang und gäbe.

Natürlich betatschen nicht alle französischen Politiker ihre Sekretärinnen und Presseattachés. Die zahllosen Geschichten, die sich Pariser JournalistInnen erzählen, lassen eine hohe Dunkelziffer vermuten. 2006 nannte das Buch Sexus Politicus erstmals Namen. Ohne Belege, aber sehr detailliert schilderten zwei angesehene Pariser Reporter, wie bunt es die "classe politique" treibt - von Chiracs Seitensprüngen zu Mitterrands Mätressen und Sarkozys TV-Sprecherinnen bis hin zu Strauss-Kahns Swinger-Partien. Die Französinnen und Franzosen verschlangen die Details, fanden aber nichts dabei. In den Boudoirs der Republik wurde weiter verkehrt - wie seit Jahrhunderten. Sex gehört in Frankreich zur Politik. Vor allem zur höchsten Politik, sei das in Versailles oder im Élysée. Sei es mit oder ohne Galanterie, mit oder ohne Gewalt. Die Palette reicht vom Sonnenkönig, der vor dem Zimmermädchen respektvoll den Hut lüftete, bevor er sie in sein Bett bestellt, bis zum Revolutionsphilosophen Marquis de Sade, der seiner "Justine" noch viel Grässlicheres bescherte, als es einer Kammerzofe im New Yorker Sofitel jemals widerfuhr.

Das Erstaunliche daran: Das wilde Treiben der französischen Monarchen und Minister bewegt sich in festen Bahnen, mit fest verteilten Rollen. Die "amouröse Geschichte der Gallier", wie der libertäre Graf von Bussy-Rabutin sein berühmtes Traktat im 17. Jahrhundert nannte, mag freizügig sein, aber ist ebenso genormt.

Die erste Grundregel lautet: Je höher der Prinz oder Politiker, desto mehr ist ihm erlaubt. Während der einfache Bürger zu Hause vom Teigholz der Ehefrau erwartet wird, wenn ihn einmal die Sünde streift, darf der König alles, was Gott verboten hat.

Alles, was Gott verboten hat

Aber nach der Etikette, s'il vous plaît: Sex folgt in Frankreich dem sozialen Status. Das ist die zweite Grundregel: Je tiefer die Herkunft der Frau, desto mehr darf sich der Monarch oder Minister herausnehmen. Sozial - nicht unbedingt sexuell - ist die Gattin am besten gestellt. Sie dient in erster Linie der Karriere ihres Gatten, wie etwa Bernadette Chirac, eine geborene Chodron de Courcel. Das Adelsprädikat ersparte ihr nicht penible Momente, so etwa im August 1997, als Lady Diana in Paris verunglückte. Als die Polizei im Élysée nachfragte, wie sie sich verhalten solle, musste Bernadette Chirac antworten, sie wisse auch nicht, wo - das heißt im welchem Bett - sich ihr Mann gerade aufhalte. Auch Dominique Strauss-Kahn verdankt einen Gutteil seines politischen Aufstiegs seiner (auch beziehungs-)reichen Gattin Anne Sinclair.

Neben einer Gattin hält sich ein französischer Spitzenpolitiker gerne eine Konkubine. Am offiziellen Status, den Madame de Pompadour unter Ludwig XV. genoss, hat sich bis heute nicht viel geändert: Sogar ein sozialistischer Präsident wie François Mitterrand unterhielt eine Zweitfrau, Anne Pingeot mit Namen. 1996 trauerte sie ganz offen neben Danielle Mitterrand am Grab des verstorbenen Landesherrn; ihre uneheliche Tochter Mazarine wurde von Staats wegen logiert, was die Pariser Zeitungen für so selbstverständlich hielten, dass sie jahrelang keine Zeile darüber brachten.

In der dritten Klasse reisen die Kokotten, Mätressen und Hetären durch die Pariser Politik. Ihr Königsweg führt übers Élysée. Die Präsidenten Giscard d'Estaing, Mitterrand, Chirac und Sarkozy standen auf Journalistinnen, und zwar vorzugsweise beim konservativen Renommierblatt Figaro. Manchmal auf dieselben: Mitterrand frequentierte eine Pressefotografin, die schon Giscard "gekannt" hatte, bevor er ein Faible für Brigitte Bardot entwickelte.

In der untersten Schublade des republikanischen Bettsortiments finden sich Zufallsbekanntschaften, die den Weg der Mächtigen kreuzen. Zimmermädchen, Kellnerinnen, Wahlhelferinnen. Safarijäger Giscard d'Estaing nannte sie in einem seiner Romane "Freiwild". Von Mitterrand behauptet das Buch Sexus Politicus: "Er hielt kein Wahlmeeting ab, ohne dass er es mit einer Frau beschloss." Chirac trug, als er noch jünger war, im Volk den Spitznamen "Monsieur sieben Minuten, Dusche inklusive". Die Demoisellen hatten da gerade mal Zeit, ihre Kleider zusammenzuraufen, bevor sie vor die Tür gesetzt wurde. Auch bei Strauss-Kahn dürften, wenn die Vergewaltigungsvorwürfe zutreffen, die zwei Grundregeln der sexuellen Hackordnung zusammengefallen sein: Der Währungsfonds-Direktor glaubte sich in seiner New Yorker Hotelsuite (3000 Dollar am Tag) wohl zu allem berechtigt gegenüber einer afrikanischen Zimmerfrau (1200 Dollar im Monat).

Die Pariser Elite stand bisher wie ein Mann zu ihrem Vertreter und meint wie Ex-Kulturminister Jack Lang, es sei ja "niemand umgekommen". Selbst Sozialistinnen wie Martine Aubry oder Ségolène Royal, die sich Feministinnen nennen, finden kein Wort des Mitgefühls für die immigrierte Sofitel-Angestellte. Die Schriftstellerin Llera Moravia, Witwe des gleichnamigen italienischen Autors und langjährige Geliebte Strauss-Kahns, schließt sexuelle Gewalt schlicht aus: "Er ist kein grausamer, sadistischer oder primitiver Mensch." Vielleicht ist Moravia aufrichtig; vielleicht nahm sich DSK gegenüber der Intellektuellen auch nur weniger heraus als gegenüber der muslimischen Room Maid.

In der Schweiz, wo die "égalité" wohl realer ist als im französischen Anspruch, fragt man sich kopfschüttelnd, warum so gut gestellte Französinnen wie Anne Sinclair, Danielle Mitterrand oder Bernadette Chirac das Treiben ihrer Gatten so lange tolerieren. Einen Hinweis liefert der Pakt des Philosophenpaares Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir in den Sechzigerjahren: Dieser sicherte beiden Beteiligten horizontale Freiheit zu, Sartre und Beauvoir, aber auch die Mitterrands und die Strauss-Kahns lebten die salonlinke Variante des aristokratischen contrat de mariage vor, den schon Joséphine ihrem Heißsporn Napoleon in weiser (auch finanzieller) Voraussicht abgerungen hatte und der in besseren Pariser Kreisen noch heute gerne hundert und mehr Seiten umfasst.

Weniger hochgeborene Damen der besseren Gesellschaft, wie Sarkozys Ex-Justizministerin Rachida Dati, eine Immigrantentochter in Stöckelschuhen und schwarzem Lederrock, handeln vielleicht ihrer Karriere zuliebe. Das galt auch für die "juppettes", jene durchwegs hübschen Politikerinnen, die der frühere Premierminister Alain Juppé im Mai 1995 zu Ministerinnen machte. Aber nur zur eigenen Imagepflege: Als sie ihm nicht mehr in die Strategie passten, entließ er sie ab November 1995 nacheinander. Sex muss dabei nicht im Spiel gewesen sein, Vergewaltigung noch weniger. Aber als sie wieder auf der Straße standen, musste sich die eine oder andere "juppette" doch ein wenig missbraucht vorgekommen sein.

Die meisten Politikerinnen jedoch können gar nicht anders, als den Mix aus Machismus und Monarchismus zu tolerieren, die Augen zu verschließen und mitzumachen. Das französische System ist Jahrhunderte alt, und selbst ein Präsident vermag daran kaum etwas zu ändern. Noch weniger eine Frau. Das System und insbesondere seine sexuellen Sitten sind zu stark. "Zu hart, zu brutal, zu grob für Frauen", meinte Georges Tron - der es wissen muss - vor Jahren.

Es brauchte schon ein äußeres Ereignis wie die DSK-Festnahme in New York, um die sexuellen Hierarchien Frankreichs aufzubrechen. "Die Zeit, als man eine Soubrette ungestraft bumsen konnte, ist vorbei", meinte die aus Norwegen stammende Präsidentschaftskandidatin der französischen Grünen, Eva Joly, ohne französische Eleganz. Wahrscheinlich ist die Annahme zu optimistisch. Frankreich wird erst langsam zu einer Demokratie. (Von Stefan Brändle/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11./12./13.6. 2011)