In den Stunden lernen die KlientInnen auch Nein zu sagen. "Damit helfen wir in der Prävention von sexueller Gewalt gegen Behinderte", sagt die Leiterin der Fachstelle.

Foto: derStandard.at/Blei

Doris Krottmayer war von Anfang an dabei - als Leiterin der Fachstelle .hautnah.

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"Behinderung und Sexualität gehören in der Gesellschaft noch immer nicht zusammen", sagt Doris Krottmayer, Leiterin der Fachstelle .hautnah des Sozialdienstleisters Alpha Nova. Im steirischen Kalsdorf bei Graz versucht die Stelle seit April 2009 dieses Thema nicht nur anzusprechen, sondern bietet auch Sexualbegleitung für Menschen mit Behinderungen an. Sexuelle Beratungsgespräche finden schon seit 1995 statt. Bei diesen habe man erkannt, dass vielen Menschen mit Beeinträchtigungen nicht nur durch Fotos oder anatomische Puppen Sexualität begreifbar gemacht werden kann. Krottmayer sagt: "Manche Menschen müssen Aufklärung am eigenen Körper erleben."

Zu Beginn der Beratungen seien auch immer wieder KlientInnen gekommen, die nicht wussten, welches Geschlecht sie haben. Als Grund dafür sieht die Stellenleiterin auch, dass es früher Männer- und Frauenhäuser gegeben habe. Oft kamen die beeinträchtigten Personen nie mit dem Gegengeschlecht in Berührung. "Das hat sich zum Glück verändert, seitdem die Arbeit mit Behinderten österreichweit professioneller wurde", sagt Krottmayer.

Präventionsarbeit

Eine Sexualbegleitung hilft Menschen mit Beeinträchtigungen sich selbst zu befriedigen oder erotische Zuwendungen von einer anderen Person zu erhalten. Nur Oral- und Geschlechtsverkehr sind von der Dienstleistung ausgenommen. Dabei gehe es laut Krottmayer aber nicht nur um die simple Befriedigung von behinderten Menschen.

Durch die fehlende Möglichkeit für private sexuelle Aktivität würden beeinträchtigte Personen immer wieder versuchen, im öffentlichen Raum auf ihr sexuelles Bedürfnis aufmerksam zu machen. "Man darf sich dann nicht wundern, wenn im Schwimmbad jemand die Hose runterlässt und beginnt an sich selbst herumzuspielen", sagt Krottmayer. Durch die Sexualbegleitung könne diese Energie in positive Bahnen gelenkt werden und wäre dabei noch kostengünstiger. "Wird ein Behinderter beim öffentlichen Masturbieren erwischt, dann bleibt ihm oft nur Therapie und möglicherweise in letzter Instanz die Psychatrie", sagt die Leiterin.

Gewalt gegen Behinderte

Außerdem würden viele KundInnen nach den Sitzungen mehr Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild legen, da ihr Selbstwert steige und sie ihren SexualbegleiterInnen auch gefallen wollten. "Und wenn diese Menschen dann auch gepflegter zur Arbeit erscheinen, hilft das ihnen und auch ihrem Umfeld", so Krottmayer.

In den Stunden würden die KlientInnen auch lernen, Nein zu sagen. "Damit helfen wir in der Prävention von sexueller Gewalt gegen Behinderte", erklärt die Fachstellenleiterin und nennt ein Beispiel. Eine Dame mit Mehrfachbehinderungen habe immer wieder über das Internet nach Kontakten zu Männern gesucht, diese sogar zu sich eingeladen, sagt Krottmayer: "Dabei haben die Männer oft mit ihr gemacht, was sie wollten." Jetzt aber sei die Frau viel selbstsicherer geworden und ließe sich sexuell nicht mehr ausnutzen.

Prostitutionsgesetz

Im Vorfeld zur Gründung des Lehrgangs zur Sexualbegleitung sind geschlechterspezifische Arbeitsgruppen gegründet worden. Ab Herbst 2006 haben sich JuristInnen, SachwalterInnen, Interessierte und Angehörige beraten und die Rahmenbedingungen für die berufsbegleitende Ausbildung festgelegt. 

Dabei wäre man laut Krottmayer immer wieder mit dem Frage konfrontiert gewesen, warum es eine spezielle Sexdienstleistung für Behinderte geben solle, wenn es doch Prostituierte gebe. "Meine Meinung ist aber, dass es schon immer Sexarbeit und Behinderungen gegeben hat. Würden Menschen mit Beeinträchtigungen kein spezielles Angebot benötigen, dann hätten sich die beiden Gruppen schon gefunden", sagt Krottmayer. Man wolle durch den Lehrgang die Sexarbeit aber nicht abwerten, sondern vielmehr ergänzen: "Wir fühlen uns nicht als die besseren Dienstleister."

Erster Lehrgang 2008

Bei einem Symposium im Jahr 2007 wurde das Konzept schließlich der Öffentlichkeit präsentiert. "Wir haben schnell mitbekommen, dass wir uns mit unserer Dienstleistung dem Prostitutionsgesetz unterordnen mussten", so Krottmayer. Deshalb habe man darauf verzichtet, Oral- und Geschlechtsverkehr anzubieten.

Im Mai 2008 wurde der erste Lehrgang ausgeschrieben. Voraussetzung für einen Ausbildungsplatz war und ist Berufserfahrung im Bereich Sozial- oder Körperarbeit sowie die Offenlegung der persönlichen sexuellen Lerngeschichte mittels Fragebogenbeantwortung. Ein Mann und sieben Frauen starteten daraufhin den Lehrgang. In knapp einem Jahr wurden gesetzliche Bestimmungen, körperspezifische Grundlagen (z.B. Wie gehe ich mit einer spastischen Lähmung oder Inkontinenz bei KlientInnen um?) und praktische Erfahrungen vermittelt.

Zum ersten Mal berührt

Die praktischen Module waren so gestaltet, dass interessierte Menschen mit Behinderungen ein Wochenende lang in Kalsdorf zu Gast waren und Sexualbegleitung in Anspruch nehmen konnten. Dabei habe es laut Krottmayer drei Räume gegeben: Einen Raum, in dem nur über Sexualität gesprochen werden konnte, einen Raum, in dem man sich angezogen berühren lassen konnte und ein Raum, in dem Berührungen ohne Kleidung möglich waren. Die meisten KlientInnen hätten sich dafür entschieden, die Zimmer in der oben genannten Reihenfolge aufzusuchen. "Das war wichtig für die Menschen. Immerhin erfuhren viele von ihnen zum ersten Mal erotische Berührungen", sagt Krottmayer.

Insgesamt 148 Personen nahmen im vergangenen Jahr Sexualbegleitungen in Anspruch. Vor allem Leute mit Mehrfachbehinderungen würden das Angebot nutzen (40 Prozent). So positiv die Ergebnisse der Sitzungen seien, so besorgniserregend wäre die finanzielle Situation der Fachstelle. Seit den steirischen Landtagswahlen im Herbst 2010 habe sich laut Krottmayer viel verändert. "Im Sozialbereich wird massiv gespart, in der ganzen Steiermark wird es laut meiner Einschätzung über 1.000 Arbeitslose in der Behindertenarbeit geben." Krottmayer befürchtete, dass es auch die Fachstelle .hautnah treffen könnte. "Nachdem wir unter so genannte Ermessensleistungen fallen, dachte ich, dass uns die Förderungen komplett gestrichen werden."

Förderung bewilligt

Doch die Sorge war zumindest teilweise unbegründet. "Aufgrund unserer Einzigartigkeit in Österreich, bekommen wir weiterhin Zuschüsse. Allerdings wurden diese um fünfzehn Prozent gekürzt", erzählt Krottmayer. War das Budget in den vergangenen Jahren mit 100.000 Euro schon knapp bemessen, ist sich die Leiterin nun nicht mehr sicher, wo noch gespart werden kann.

Lehrgänge zur Sexualbegleitung wird es nach dem zweiten Jahrgang, der Ende 2011 fertig wird, nicht mehr geben. Auch Zuschüsse für KlientInnen für Sitzungen können wahrscheinlich nicht mehr gewährt werden. Eine Stunde koste zwischen 75 und 100 Euro. Viele KundInnen würden aber nur ein wöchentliches Taschengeld von 52 Euro erhalten. "Das Projekt kann sich also nie selbst tragen", sagt die Leiterin. Deshalb sei man auch auf der Suche nach InvestorInnen. Krottmayer: "Am liebsten wäre uns ein Angehöriger eines behinderten Menschen, der den Bedarf für so ein Projekt sieht und uns unterstützen möchte." (Bianca Blei, derStandard.at, 14.6.2011)