Volker Türk vom UNHCR fordert ein radikales Umdenken in Bezug auf den Umgang mit Flüchtlingen in Europa

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STANDARD: Die Genfer Flüchtlingskonvention wird heuer 60 Jahre alt. Sie verpflichtet zum Schutz - doch in der EU werden Flüchtlinge als Problem wahrgenommen. Kommt Europa die Solidarität abhanden?

Türk: Ja. In den vergangenen Jahren sind die Flüchtlingszahlen weltweit stabil geblieben, 2010 waren es rund 10,5 Millionen. In Europa sind sie im Vergleich zu den 1990er-Jahren viel niedriger. Dass es in Europa so wenig Solidarität gibt, ist erstaunlich. In den letzten Wochen sind etwa 1500 Bootsflüchtlinge im Mittelmeer ums Leben gekommen. Ich habe keine staatliche Initiative gesehen, die sich damit beschäftigt.

STANDARD: Das UNHCR hat Europa dazu aufgefordert, Flüchtlinge aus Tunesien und Ägypten aufzunehmen. Wie war die Resonanz?

Türk: Wir haben versucht, für fünf- bis sechstausend Menschen Aufnahmeplätze zu bekommen. Die Reaktion war lauwarm. Die USA haben zugesagt zu helfen. Norwegen hat gerade 250 Plätze angeboten, Schweden 200, Portugal 25. Aber vom Großteil der Staaten kam keine große Reaktion, auch nicht von Österreich und Deutschland.

STANDARD: Woran liegt das?

Türk: Da geht es - auch - um politische Führung. Vielleicht bekommen populistische Politiken in diesem Bereich zu viel Macht. Stellungnahmen werden oft nicht hinterfragt, obwohl sie mit der Realität nichts mehr zu tun haben. Wer weiß, dass nur zwei Prozent von der einen Million Menschen, die Libyen verlassen haben, nach Europa gekommen sind?

STANDARD: Was bedeutet das für die Flüchtlinge im Nahen Osten?

Türk: Tausende Libyer finden derzeit Unterschlupf bei tunesischen Gastfamilien. Das Problem sind die Menschen, die nicht aus Libyen stammen - Somalier, Eritreer. Wir hören von Angriffen auf Afrikaner in den arabischen Staaten.

STANDARD: Der Kern von Europa schottet sich ab, unter anderem durch das Dublin-II-System. Die Randstaaten bleiben laut dieser Logik auf den Flüchtlingen sitzen. Wie schätzen Sie diese Situation ein?

Türk: Sie stellt Europa vor die Herausforderung eines radikalen Umdenkens. Es müssen verschiedenste Ideen auf den Tisch kommen, ein Verteilungsschlüssel etwa, der bereits existierende Flüchtlingscommunities mitberücksichtigt. Und man muss sich ansehen, welche Teile der Asylpolitik auch von EU-Institutionen übernommen werden können.

STANDARD: In der Realität passiert das Gegenteil: In den letzten Wochen wurde über eine Suspendierung von Schengen diskutiert. Was sagen Sie dazu?

Türk: Zwar hat Schengen nicht direkt mit der Fluchtproblematik zu tun, aber die Diskussion ist ein Zeichen, dass wieder mehr staatliches Souveränitätsdenken existiert.

STANDARD: Es gibt Überlegungen, den Flüchtlingsbegriff zu erweitern und die Genfer Flüchtlingskonvention aufzumachen. Wie stehen Sie dazu?

Türk: Ich glaube, es wäre eine große Gefahr. Die Flüchtlingskonvention hat schon vor 60 Jahren dasselbe gesagt, was heute notwendig ist: dass man Verfolgte nicht zurückschicken kann. Auch haben Klimawandel und Naturkatastrophen inzwischen eine Vertreibungsdimension erreicht, die mitberücksichtigt werden muss.

STANDARD: Mittels einer Zusatzkonvention?

Türk: Der Klimawandel zählt zu den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, und das ist kein leichtes Thema. Ich hoffe, dass beim Ministertreffen im Dezember manche Staaten Interesse zeigen, an einem geeigneten Instrument zu arbeiten. (Irene Brickner, Julia Raabe, DER STANDARD Printausgabe, 16.6.2011)