Bei der Gründung der Vereinten Nationen 1945 in San Francisco soll ein türkischer Diplomat gesagt haben, es handle sich "um eine Organisation, in der immer etwas verschwindet. Wenn zwei kleine Staaten einen Konflikt haben, wird der Konflikt verschwinden. Wenn ein kleines und ein großes Land einen Konflikt haben, wird das kleine Land verschwinden. Und wenn zwei große Länder einen Konflikt haben, werden die Vereinten Nationen verschwinden."

Jene mächtigen Persönlichkeiten in der Bush-Administration, die den Regimewechsel im Irak ohne eine 18. Sicherheitsratsresolution erzwungen haben, hoffen möglicherweise, dass dieser apokryphe Diplomat Recht gehabt hat: Die Vereinten Nationen sollen als politische Institution bzw. als Spiegelbild der internationalen Meinung verschwinden.

Im Gegensatz zu dieser Linie vertritt die frühere stellvertretende Staatssekretärin für Aufklärung und Forschung unter Präsident Clinton, die Russland- Expertin Toby T. Gati in der Zeitschrift Legal Times die Meinung, dass bei dem kompliziertesten Wiederaufbauprogramm seit dem Marshallplan die USA finanzielle und administrative Hilfe einschließlich der UNO-Inspektoren und der Experten der Internationalen Atomenergiebehörde im Irak brauchen würden. Darüber hinaus bleibt die UNO-Hilfe beim Kampf gegen den weltweiten Terrorismus unerlässlich. Das gilt auch für die Vorbereitung von neuen internationalen Abkommen zur Kontrolle der Massenvernichtungswaffen.

Es gehe also nicht darum, ob die US-Regierung die Macht hat, die Debatte von Schlüsselfragen in der UNO zu verhindern, sondern darum, dass es auch im Interesse der Vereinigten Staaten ist, die internationale Hilfe bei der gigantischen Aufgabe des Wiederaufbaues nicht auszuschließen. Der Ruf der Expertin an die eigene Regierung ("Schreibt die Vereinten Nationen nicht ab!") verhallte freilich ungehört.

Fraglich ist, ob die von früheren Außen- und Verteidigungsministern wie Albright, Christopher, Cohen und anderen Spitzenbeamten der demokratischen wie auch der republikanischen Präsidenten dieser Tage veröffentlichte Erklärung zugunsten einer Erneuerung der transatlantischen Partnerschaft mehr Erfolg haben wird. Weder die Vereinigten Staaten noch Europa seien allmächtig, die beiden brauchen einander, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Die meisten der größten Probleme des 21. Jahrhunderts seien globalen Charakters.

Die auch von Le Monde auf einer ganzen Seite veröffentlichte Stellungnahme spiegelt die wachsende Besorgnis innerhalb der kosmopolitischen Elite in Washington wider. Dieses Manifest regte der aus Marokko stammende Simon Serfaty an. Der Wissenschafter und Direktor des Zentrums für strategische und internationale Studien (CSIS) distanzierte sich bereits vor einigen Wochen in einem Gespräch mit dem Verfasser dieser Zeilen von der Politik der amerikanischen Hegemonie. Die relative Machtlosigkeit der 190 UNO-Mitgliedstaaten angesichts der Übermacht des 191., nämlich der USA, darf darüber nicht hinwegtäuschen, dass in einer globalisierten Welt die internationale Ordnung nur durch den Kosmopolitismus, und nicht durch den Nationalismus demokratisiert werden kann.

Für die oft als "Vereinte Ohnmacht" apostrophierte Weltorganisation gilt der Spruch von Winston Churchill, die Demokratie sei eine schlechte Regierungsform, aber er kenne keine bessere. Allen Enttäuschungen und Unkenrufen zum Trotz gibt es nach wie vor keine andere weltumfassende Institution auch für den Kampf gegen den Terrorismus. Deshalb soll die UNO nicht ignoriert oder zerstört, sondern reformiert werden! (DER STANDARD, Printausgabe, 22.5.2003)