Ruth Ladenstein forscht seit 25 Jahren in der St. Anna Kinderkrebsforschung. Ihr Anliegen: Studien für Kinderarzneimittel.

Ruth Ladenstein (54) ist bereichsleitende Kinderärztin am St. Anna Kinderspital, Leiterin der Abteilung Studien und Statistik der St. Anna Kinderkrebsforschung und Präsidentin von SIOP Europe, der Gesellschaft der pädiatrischen Onkologen.

Foto: Standard/Christian Fischer

Wie werden Krebstherapien verbessert? Für das Neuroblastom hat die Kinderärztin Ruth Ladenstein gerade einen Meilenstein gesetzt. Mit Karin Pollack sprach sie über Studien, Fortschritt und Kindermedizin.

Standard: Auf der weltgrößten Krebskonferenz ASCO in Chicago haben Sie kürzlich Ihre Studien in der Plenary Session präsentiert. Wie haben Sie es dorthin geschafft?

Ladenstein: Dieser große Erfolg für unsere Studiengruppe ist das Ergebnis von 20 Jahren Arbeit. In die Plenary Session schaffen es jene Arbeiten, die bei der Behandlung von Krebserkrankungen neue Standards setzen und damit alte Therapien ablösen. Das ist uns für das Neuroblastom im fortgeschrittenen Stadium, Hochrisikoneuroblastom im Fachbegriff, gelungen.

Standard: Neuroblastome sind nach Hirntumoren die häufigsten soliden Tumoren bei Kindern, trotzdem aber selten. War das die Herausforderung?

Ladenstein: Genau, am Neuroblastom, einer Erkrankung des sympathischen Nervensystems, erkrankt eines von 100.000 Kindern, und zwar meist vor dem fünften Lebensjahr. In 50 Prozent der Neuerkrankungen liegt ein fortgeschrittenes Stadium vor. Im Grunde genommen handelt es sich also um eine seltene Erkrankung. Deshalb haben wir 2002 das Studiennetzwerk mit Beteiligung von 18 europäischen Ländern und Israel gegründet. Die Daten der erkrankten Kinder, derzeit 220 pro Jahr, und ihre Behandlung werden genau erfasst, dadurch können verschiedene Strategien verglichen werden. Nur so konnten wir zu unseren Ergebnissen kommen.

Standard: Was macht die Erforschung dieser Erkrankung diffizil?

Ladenstein: Beim Neuroblastom ist das Alter der Kinder und die jeweilige Tumorbiologie entscheidend. Wir können aggressive Formen erkennen und dementsprechend intensiv behandeln. Bis zum ersten Lebensjahr können wir bei mehr als 90 Prozent der Kinder mit einer Heilung rechnen. Manchmal bilden sich Tumoren spontan zurück, oder es gelingt uns eine Heilung mit Operation und relativ wenig Chemotherapie. Nach dem ersten Lebensjahr ändert sich die Situation. Da stellt sich der Organismus des Kindes um. Als ich vor mehr als 20 Jahren in der Forschung begann, lag die Überlebensrate dieser Hochrisikopatienten bei zehn Prozent. Heute erwarten wir durch die jüngsten Ergebnisse Heilung für 50 bis 60 Prozent der Patienten. Wir halten uns an ein erprobtes Schema aus intensiver Chemo, Operation, Bestrahlung und Immuntherapie.

Standard: Wie genau wurde dieser Fortschritt erzielt?

Ladenstein: Durch Datensammlung und -auswertung. An der von Helmut Gadner begründeten St. Anna Kinderkrebsforschung führen wir Kinderstudien durch. Bei einem Studienaufenthalt in Frankreich analysierte ich Daten der Europäischen Gruppe für Knochenmark- und Stammzelltransplantation (EBMT). Dabei ergaben sich Hinweise, dass eine bestimmte Medikamenten-Kombination, nämlich die aus Busulphan und Melphalan, besonders erfolgreich sein könnte. Der große Nachteil: Busulphan ist sehr wirkungsvoll auf therapieresistente Tumorzellen, doch die so behandelten Kinder werden unfruchtbar. In den USA wird die Erkrankung mit anderen Hochdosistherapiekombinationen behandelt - ohne Busulphan. Unser Ziel war es, diese beiden Therapiestandards zu vergleichen, um herauszufinden, ob ein Überlebensvorteil die jeweiligen Nebenwirkungen vertretbar macht.

Standard: Es ging also nicht nur darum, zu beweisen, dass der europäische Ansatz besser als der amerikanische war?

Ladenstein: Nein, darum ging es nicht. Wir haben 2002 mit der randomisierten Studie begonnen, und es dauerte bis 2010, um genügend Patienten für relevante Aussagen zu bekommen. Die Studienrandomisierung konnte aber vorzeitig beendet werden, weil sich ein ganz klarer Vorteil für die Patienten in der Behandlungsgruppe Busulphan/Melphalan zeigte. Sie hatten eine um 16 Prozent signifikant bessere Chance, ohne Rückfall zu überleben. Das ist ein enormer Zugewinn für die Überlebenschancen. Der europäische Standard wird deshalb nun auch in den USA übernommen werden.

Standard: Die wenigsten Medikamente sind für Kinder zugelassen. Wie war das in dieser Studie?

Ladenstein: 80 Prozent der Medikamente, die bei Kindern mit Krebs eingesetzt werden, sind nicht für Kinder zugelassen. Als Ärzte sind wir aber mangels Alternativen trotzdem verpflichtet, sie zu verwenden, weil wir wissen, dass sie die Überlebenschancen bei den an sich sonst tödlichen Erkrankungen erhöhen. Off-Label-Use ist der Fachbegriff dafür. Der Gesetzgeber verlangt eben nur für Erwachsene entsprechende Wirkungs- und Dosis-Studien. Das ist ein Systemfehler, auf den wir die entsprechenden staatlichen Stellen seit Jahren hinweisen. Wir engagieren uns auch in Brüssel für kindermedizinische Forschung.

Standard: Könnte nicht ein europaweites Netzwerk günstig sein?

Ladenstein: Natürlich, und das gibt es auch. Doch nur Länder mit Ressourcen und entsprechenden Strukturen im Hintergrund können mitmachen. Denn klinische Forschung zur Optimierung von Therapien oder Medikamtenzulassungen sind extrem aufwändig. Dazu gehören Sicherheitsvorschriften, Versicherungsschutz, Datenerfassung und -auswertung von Wirkung und Nebenwirkungen und vieles mehr.

Standard: Zurück zum Neuroblastom. Haben Ihre Ergebnisse Auswirkungen auf andere Bereiche?

Ladenstein: Wir haben Signale, dass die von uns untersuchte Medikamentenkombination eventuell auch beim Ewing-Sarkom, ebenfalls einer seltenen Tumor- erkrankung bei Kindern und Jugendlichen, erfolgreich sein könnte. Entsprechende Studien laufen. Doch für Ergebnisse müssen wir einen langen Atem haben.

Standard: Gibt es Behandlungsansätze außer der Chemotherapie?

Ladenstein: Die Immuntherapie.

Standard: Wo ist der Unterschied?

Ladenstein: Bei der Chemotherapie werden zusätzlich zur Zerstörung des Haupttumors durch Bestrahlung und Operation die im Körper verstreuten sich teilenden Krebszellen mit entsprechenden Medikamenten nach einer genau vorgegebenen zeitlichen Reihenfolge zerstört. Die Immuntherapie hingegen arbeitet mit dem körpereigene Abwehrsystem. Sie kommt in der Nachbehandlung zum Einsatz. Die US-Studiengruppe konnte letztes Jahr zeigen, dass die Immuntherapie von entscheidender Bedeutung ist. Wir in Europa arbeiten an nebenwirkungsärmeren Darreichungsformen. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 20.06.2011)