Michael Schröter-Kunhardt ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie mit Praxis in Heidelberg. 2004 hat er die erste Sektion (Netzwerk Nahtoderfahrung e.V.) der IANDS (International Association for Near Death Studies) in Deutschland mitgegründet und unterstützt diese in wissenschaftlichen Belangen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Nahtodforschung, der Sexual - und Religionspsychopathologie. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an m.schroeter-kunhardt@gmx.de.

Foto: Michael Schröter-Kunhardt

Michael Schröter Kunhardt sammelt und untersucht seit Jahren in seiner Freizeit Fälle von Nahtoderlebnissen. Er kommt zu dem Schluss, dass Nahtoderfahrungen eine Sonderform von archetypischen Träumen sind und auf ein universelles Sterbeerfahrungsprogramm im menschlichen Gehirn weisen. Im Interview mit der.Standard.at erzählt er auch über außersinnliche Wahrnehmungen, "die man nicht so ohne Weiteres mit dem Gehirn erklären kann."

derStandard.at: Seit wann forschen Sie zum Thema Nahtoderfahrungen und was hat Sie dazu bewogen? 

Schröter-Kunhardt: Ich untersuche Nahtoderfahrungen seit ungefähr 16 Jahren. Im Rahmen meiner langjährigen medizinischen Ausbildung hatte ich mit solchen Patienten und auch mit Frau Kübler-Ross* in Freiburg Kontakt. Ich habe mich mit dem Thema zu beschäftigt und angefangen alle Fälle zu sammeln. Betroffene konnte ich durch Fernseh- und Radiobeiträge oder Publikationen von mir gewinnen. Mittlerweile haben ungefähr 400 Menschen über ihre Erfahrungen berichtet. Für die erste Studie habe ich dann 100 ausgewertet.

derStandard.at: Sie beschäftigen sich in ihrer Freizeit damit. Wie darf man sich das vorstellen?

Schröter-Kunhardt: Meine Forschungen begannen im Rahmen meiner Psychiatrie-Tätigkeit in der Klinik. Abends oder am Wochenende habe ich Fälle gesammelt, Fragebögen entwickelt und verschickt. Eine Bezahlung gab es nie. In der Psychiatrie bekommt man zum Teil auch noch Ärger, wenn man so was macht. Mir wurde immer gesagt: 'Was sie machen ist nicht wissenschaftlicher Mainstream und das können wir nicht fördern.' Aber immerhin ist es damals schon gelungen dieses Thema im Hörsaal der psychiatrischen Klinik mit Parapsychologen öffentlich zu diskutieren.

derStandard.at: Welche Gemeinsamkeiten haben Sie schon bei den ersten hundert Fällen entdeckt?

Schröter-Kunhardt: Die Gemeinsamkeiten sind ja bekannt. Das sind die universellen Grundelemente, die in allen Fällen, entweder einzeln oder in Kombination auftreten. Wobei schon damals klar war, dass die Nahtoderfahrung nicht immer vollständig ist. Bei manchen kommen auch nur ein oder zwei Elemente vor oder es tauchen persönliche Bilder auf, die nicht zum Schema passen. Bei einem Viertel der Fälle kommen also persönliche Traumbilder vor. Das zeigt auch, dass sich Sterbeerfahrungen aus Träumen heraus entwickeln. Deswegen kann ich heute behaupten, dass Sterbeerfahrungen eine Sonderform von archetypischen, also transkulturell ähnlichen, Träumen sind.

derStandard.at: Ihr Resümee aus ihren Fallstudien ist ja auch, dass es im menschlichen Gehirn ein vorinstalliertes, standardisiertes Sterbeerfahrungsprogramm gibt.

Schröter-Kunhardt: Das kann man heute sicher sagen. Es gibt zwei wichtige Punkte, die gerne verschwiegen werden. Zum einen kann man Sterbeerfahrungselemente auch mit elektrischer Stimulation des Gehirns auslösen. Zum anderen treten Sterbeerfahrungen nur in den ersten 10 bis 120 Sekunden und nicht während der gesamten Zeit des Sauerstoffmangels auf. Nahtoderfahrungen sind also nicht wie Pim van Lommel behauptet ein Beweis dafür, dass das Bewusstsein unendlich sei und unabhängig vom Gehirn. Das ist alles Unsinn. Diese Erfahrungen verweisen zwar auf etwas Unsterbliches, sind aber selbst noch Teil der Endprogrammierung im Gehirn. 

Der zweite entscheidende Punkt ist, dass sich Nahtoderfahrungen auch wie Träume verändern. Wenn sich zum Beispiel diese Landschaftsbilder mit dem Paradies auflösen und plötzlich der Gras- zu einem Glasboden wird, weil der Betreffende auf die Erde schauen will. Diese Verwandlung von Gras in Glas ist ein typisches Wunscherfüllungssymptom. Traumhafte Veränderungen sind ja oft gesteuert durch unbewusste oder teilbewusste Wünsche und dann verändern sich die Landschaften. Das zeigt eindeutig, dass Nahtoderfahrungen keine Fotografien des Jenseits sind, wie von manchen behauptet. Das ist alles Esoterik.

derStandard.at: Sind Nahtoderfahrungen demnach eine Extremform der simulativen Kraft des Gehirns sind? 

Schröter-Kunhardt: Ja, genau. Nahtoderfahrungen sind eine perfekte Simulation eines Weiterlebens nach dem Tod, die auch Atheisten erleben. Aber das ganze Programm ist trotzdem keine Täuschung, wenn man hinterfragt, warum diese Installation im Gehirn existiert und diese auch ohne Todesnähe auslösbar ist. Es wird dem Menschen im Sterben vorgespielt, damit er glaubt, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Die Simulation funktioniert so perfekt, dass sie real erscheint. Und das ist ja auch der Sinn des Programms. Auffällig ist, dass Elemente wie Lichterfahrungen, Schwebegefühle, außerkörperliche Erfahrungen, Paradies oder Höllenbilder transkulturell auftreten. Offenbar gibt es ein universelles menschliches Programm im Gehirn. 

In einigen Fällen waren Betroffene kilometerweit vom Ort entfernt und haben etwas gesehen, was später von anderen bezeugt wurde. Außerkörperliche Erfahrungen sind also nicht bloße Traumbilder, nicht nur allein als Produktion des Gehirns erklärbar. Es spielen auch außersinnliche Wahrnehmungen, also wenn sich der Betroffene unabhängig von Raum und Zeit bewegen kann, eine Rolle. Meiner Ansicht nach ist das der entscheidende Punkt. Die Kombination aus guter Simulation mit dem Inhalt der Vorbereitung auf ein Leben nach dem Tod und außersinnlicher Wahrnehmung. Das Simulationsprogramm geht wahrscheinlich in ein echtes Programm über, dann verlässt irgendetwas wirklich das Gehirn und kann ohne die Sinnesorgane, also außersinnlich, wahrnehmen. Das spricht dafür, dass Sterbeerfahrungen nicht nur Wunscherfüllung sind, sondern auch auf ein Leben nach dem Tod verweisen.

derStandard.at: Können Sie konkret einen Fall nennen?

Schröter-Kunhardt: Ja. Zum Beispiel den besonders eindeutigen Fall mit mehreren Zeugenaussagen, wo die Person, als sie im Krankenhaus lag, ihren Sohn in einem ihr fremden Haus an einem 400 Kilometer weit entfernten Ort, den sie nicht kannte, sah und ihm ein Jahr später zeigen konnte auf welchem Stuhl er gesessen hatte.

derStandard.at: Wie oft hatten sie mit solchen außersinnlichen Wahrnehmungen zu tun?

Schröter-Kunhardt: Also, im Durchschnitt waren es rund drei bis vier Prozent, wobei es aber seltener Zeugenaussagen oder Beweise für außersinnliche Wahrnehmung gibt. 

derStandard.at: In wie vielen Fällen wurde von negativen Nahtoderfahrungen berichtet?

Schröter-Kunhardt: Da habe ich nur wenige Fälle gefunden, nicht mal ein Prozent. Die Nahtod-Glückserfahrungen sind auch darauf zurückzuführen, dass das Sterbeerfahrungsprogramm auch ein Schutzprogramm ist. Es schützt vor Leid. Das Gehirn schüttet als Gegenregulation Glückssubstanzen aus. 

derStandard.at: Für Nahtoderlebnisse gibt es unterschiedliche Erklärungen. Es gibt Forscher, die von biochemischen Ursachen im Gehirn aufgrund des Sauerstoffmangels ausgehen. Andere Nahtodforscher behaupten, dass Nahtoderlebnisse ein vom Gehirn unabhängiges Bewusstsein beweisen würden. Wo stehen Sie in dieser Debatte?

Schröter-Kunhardt: Die außersinnlichen Wahrnehmungen lassen sich nicht so ohne Weiteres neurobiologisch erklären, denn sie kommen ja gelegentlich auch bei Menschen vor, die dem Tod nicht nahe sind. Man darf davon ausgehen, dass irgendetwas im Sterben, unabhängig von Raum, Zeit und Gehirn weiterleben könnte. Nahtoderfahrungen könnten ein Indiz dafür sein. Beweis für ein Leben nach dem Tod ist das aber nicht. (derStandard.at, 24.06.2011)