STANDARD: Was ist das größte Glück für Sie persönlich?
Nöbauer: Es gibt für mich viele größere und kleinere Glücksmomente. Beide sind gleich wichtig. Zu den Großen gehört sicherlich, dass ich Menschen in meinem Leben habe, denen ich vertrauen kann; dass ich gesund bin und dass ich beruflich das machen kann, was mir wichtig ist. In der Früh beim Aufwachen Vogelgezwitscher zu hören oder nach dem Regen im Grünen zu spazieren sind kleine Glücksmomente.
STANDARD: Inwieweit ist diese Antwort kulturell geprägt?
Nöbauer: Glück ist immer kulturell bestimmt und es gibt eine sehr große kulturelle Diversität von Glücksvorstellungen. Wobei hier ein gewisses Problem besteht: Der Begriff "Glück", wie wir ihn verstehen, wird bei Weitem nicht in allen Gesellschaften verwendet.
STANDARD: Die Kultur- und Sozialanthropologie verwendet den Begriff Wohlergehen. Was wird darunter verstanden?
Nöbauer: Wohlergehen meint mehrere Dimensionen, die im Zusammenspiel wichtig sind. Das physiologische Wohlergehen, das psychologische, das sozioökonomische und auch das kulturelle. Das Zusammenspiel dieser vier Komponenten ist entscheidend bei der Frage, was Menschen in verschiedenen Gesellschaften unter einem guten Leben verstehen.
STANDARD: Wie kann das zum Beispiel aussehen?
Nöbauer: Für Aborigines im ländlichen Gebiet im australischen New South Wales ist das Eingebundensein in die Gemeinschaft das absolut Zentrale für ihr Wohlergehen. Eine australische Sozialanthropologin beschreibt in einer ethnografischen Studie das Beispiel eines kranken Mannes, der ins Spital muss. Er wird dort physisch gesund gemacht, ist aber todunglücklich, weil er vom Verwandtschaftsnetzwerk getrennt ist. Das bedeutet im Verständnis von Aborigines den sozialen Tod. Das physische Wohlergehen kann in dem Fall das Risiko des sozialen Todes nicht aufwiegen.
STANDARD: Strebt überhaupt jeder Mensch nach Glück?
Nöbauer: Alle Menschen streben nach einem guten Leben - davon wird in unserem Fach ausgegangen. Ich glaube, das ist das, was alle Menschen verbindet.
STANDARD: Kann ein Mensch auch ganz für sich allein glücklich sein?
Nöbauer: Auf irgendetwas nimmt man immer Bezug: auf Menschen im Fall von sozialen Beziehungen, auf Ahnen, auf Götter, auf Geister. Auch Menschen, die sich zum Beispiel in eine Höhle zurückziehen, um einem bestimmten spirituellen Weg zu verfolgen. In diesem Fall geht es sozusagen um die Orientierung hin zu einem Jenseits. Das ist in Religionen sehr wichtig. Religionen sehen sich ja sehr zuständig für die Frage des Glücks von Menschen, nur haben sie es meist ins Jenseits verlagert. Große Ideologien wie Marxismus haben das Glück ins Diesseits geholt. Es gibt auch Ersatzreligionen in unserer Zeit. Zum Beispiel verlagern Menschen, die für ihren beruflichen Erfolg leben, ähnlich einer religiösen Orientierung alles, was das soziale Wohlergehen angeht, immer weiter in die Zukunft.
STANDARD: Ist der Gedanke, seines Glückes eigener Schmied zu sein, westlichen Gesellschaften eigen?
Nöbauer: In westlichen Gesellschaften ist das bestimmt sehr vorrangig präsent, aber nicht nur. Interessant finde ich dabei die Frage: Wer ist zuständig fürs Glück? Das Individuum oder der Staat? Die US-amerikanische Verfassung hat als ganz zentralen Part "the pursuit of happiness", das Streben nach Glück, festgeschrieben. Man kann vom Tellerwäscher zum Millionär werden. Das Individuum ist dafür verantwortlich.
STANDARD: Die Verantwortung wird auf das Individuum abgewälzt?
Nöbauer: Zu sagen, schauts, wie ihr selbst glücklich werdet, ist einerseits ein Abschieben von politischer Verantwortung. Auf der anderen Seite gibt es das einfach, dass Menschen auf ganz verschiedene Weisen nach gutem Leben streben. Und Arlie Russell Hochschild hat in ihrem Buch The Managed Heart beschrieben, wie "emotional labour", die Gefühlsarbeit, im Zuge spätkapitalistischer Prozesse immer wichtiger wird. Gemeint ist, wie etwa Menschen im Dienstleistungsektor andauernd lächeln müssen. Menschen tragen modifizierte Gefühle vor sich her, was Hochschild sehr kritisiert. Gleichzeitig werden diese Gefühle auch wahr - aber nicht nur.
STANDARD: Kann die in einer Kultur vorhandene Vorstellung von Glück allein schon glücklich machen?
Nöbauer: Sara Ahmed geht in ihrem Buch The Promise of Happiness davon aus, dass Gefühle als Ökonomien zirkulieren und Menschen sich je nach ihrer Situation damit identifizieren. Sie denkt darüber nach, was es zum Beispiel bedeutet, wenn in einer Gesellschaft die Idee eine wichtige Rolle spielt, dass der Hochzeitstag der glücklichste Tag im Leben ist. Das Glück ist kulturell in dieser Idee festgeschrieben. Jetzt geht es darum, wie man sich damit identifiziert, damit man glücklich wird. Die entscheidende Frage ist: Was ist, wenn man es nicht so erlebt? Und: Was ist mit Menschen, die nicht heiraten wollen oder es gesetzlich nicht können? Ihr geht es auch um die Brüche, die dadurch entstehen. Glücksideen vereinen Menschen und trennen sie gleichzeitig.
STANDARD: Viele Menschen glauben, man kann dem Glück nachhelfen. Wie weit ist das verbreitet?
Nöbauer: Ich glaube, dass die meisten Gesellschaften dieser Welt mithilfe bestimmter Symbole das Unglück abwenden oder dem Glück nachhelfen. Es gibt zum Beispiel Rituale, bei denen mit Ahnen oder Geistern in Kontakt getreten wird, damit diese in einer Sache weiterhelfen. Ich denke, solche Praktiken haben etwas damit zu tun, dass Glück etwas sehr Fragiles ist. Die Menschen wissen, dass es fragil ist - wie alles Menschliche.
STANDARD: Ist Glück messbar?
Nöbauer: Es gibt eine internationale Database of Happiness aus ausschließlich statistischen Daten. Davon halte ich nicht viel. Ich vertrete vielmehr die Position, dass man ethnografisch herausfinden kann, wie sich Menschen glücklich fühlen können. Mir geht es darum, mit Menschen in ihren jeweiligen kulturellen Kontexten in Kontakt zu treten und sie zu befragen, was sie unter einem guten Leben verstehen.
STANDARD: Was bedeutet es, etwas zu erforschen, für das es sehr unterschiedliche Begriffe gibt?
Nöbauer: Das stellt einen vor das Problem wie man etwas vergleichen soll oder kann. Wobei immer wichtig ist zu sagen: Es gilt soundso nie etwas für alle Menschen in einer Gesellschaft. Es gibt ja keine abgeschlossenen, homogenen Kulturen. Ein Beispiel: Es kann sein, dass sich eine indische Geschäftsfrau in unserer globalisierten Welt von den vielen Büchern über Glück, die es bei uns gibt, angezogen fühlt. Umgekehrt gilt das für manche US-amerikanische Geschäftsfrau in Bezug auf Bücher über indische Gurus.(DER STANDARD, Printausgabe, 22.06.2011)