Wien - Ohne die Kompetenz und die Brillanz der in regelmäßigen Abständen "zur Lage der Nation" abgelassenen Reden auch nur im Geringsten infrage zu stellen, wäre es vielleicht doch besser, zu solchen Gelegenheiten anstelle eines Bundeskanzlers Michael Tilson Thomas an das Pult zu bitten und mit seiner famosen Instrumentalistenschar vom Golden Gate Gustav Mahlers Neunte aufführen zu lassen.

Sicher, wenn die Wiener Philharmoniker an dieses Werk gehen, klingt manches noch stärker abgedunkelt, noch mehr verfangen in genialischer Verworrenheit.

Michael Tilson Thomas hingegen objektiviert Mahlers zeitlosen symphonischen Österreich-Befund, indem er die Episoden der Finsternis ausleuchtet und gerade das klar vor Ohren führt, vor dem der eingeborene Österreicher diese (und auch die Augen) nur allzu gerne verschließt.

Es ist die bestürzende Diagnose einer singulären Identität von Lebensfreude und Todesgewissheit, die Mahler in diesem vierteiligen, beglückend mitleidlosen Klangtomogramm dem ausstellt, was man gemeinhin als das österreichische Wesen bezeichnet.

Die kürzelhaften Abstraktionen, in denen Gustav Mahler ähnlich wie später Maurice Ravel in La valse den Tod als Phäaken und Österreichs Hedonisten als Pompfüneberer skizziert, wurden von den Gästen aus dem Goldenen Westen vor allem in den langsamen beiden Ecksätzen mit unentrinnbarer Intensität nachgezeichnet.

Besonders der meisterhaft realisierte Pianissimo-Schluss bildete einen Höhepunkt an Stimmungsdichte, der größeren Jubel erwarten ließ, als er dann letztlich ausbrach. Der Grund mag in dem Dämpfer liegen, den Michael Tilson Thomas diesem Konzerthaus-Auftritt im ersten Teil mit sieben eigenen Orchesterliedern nach Texten von Emily Dickinson verpasste. Die geradezu gespenstische Sachlichkeit dieser Gedichte wurde in orchestraler Betriebsamkeit à la Leonard Bernstein einfach zugeschüttet. (vuji/DER STANDARD, Printausgabe, 22.5.2003)