Ein Leben vor aufdringlichen Blicken hinter Glas. "Nénette", das Sujet des französischen Regisseurs Nicolas Philibert.

 

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Nicolas Philibert, Dokumentarist.

Philibert (60), geboren in Nancy, studierte Philosophie, bevor er Assistent bei u. a. René Allio und Alain Tanner wurde. Zu seinen wichtigsten Filmen zählen "La ville Louvre", "Le pays des sourds" und "Être et avoir / Sein und haben".

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Dominik Kamalzadeh sprach mit Philibert über Blicke, Spiegelungen und Starallüren.

Wien/Paris - Nénette, die 40-jährige Orang-Utan-Dame aus Nicolas Philiberts gleichnamigem Film, ist seit 1972 einer der Stars im Pariser Jardin des Plantes. Im Unterschied zur gewöhnlichen Tierdokumentation, die eine Nähe zum Leben in der Wildnis herstellt, lässt sich Philibert auf die Ordnung des Zoos ein: Er filmt Nénette durch die Glasscheibe. Die Kommentare der Besucher sind ebenso Teil des Films wie der Affe, der mit seinen Betrachtern in Dialog tritt oder diesen verweigert. Der Blick auf das Tier in Gefangenschaft fällt auf uns selbst zurück: "Nénette" ist ein großartiger Meta-Film über Projektionen zwischen Mensch und Tier.

Standard: Sie haben in Filmen wie "La moindre des choses" und "Le pays de sourds" menschliche Außenseiter thematisiert. Gibt es Verbindungslinien zu "Nénette"?

Philibert: Alle meine Filme verbindet die Frage nach der Menschlichkeit, nach dem, was wir sind und was uns auszeichnet. Die Frage ist mir wichtiger als die Antwort. "Nénette" hat mit den erwähnten Filmen den Fokus auf Sprache gemeinsam: das Sprechen, der Ausdruck oder die Abwesenheit von Worten; das Wort und die Stille, das Leben und die Krankheit, Leid und Schmerz sind konstante Themen meiner Arbeit. Ich habe allerdings kein bestimmtes Programm, keinen Karriereplan.

Standard: Sie arbeiten lieber offen?

Philibert: Ich würde sagen, das Thema eines Films ist für mich wie ein Vorwand zu etwas viel größerem. Wann kann man von einem Dokumentarfilm sagen, dass es sich wirklich um einen Kinofilm handelt? Wenn das Thema den Rahmen sprengt und über den Film hinausgeht, wenn es universell oder metaphorisch wird. In "Sein und haben" geht es nicht um eine bestimmte pädagogische Richtung in französischen Schulklassen, sondern darum, wie man aufwächst und groß wird. Wie man sich in der Schule verhält und mit anderen zusammenlebt.

Standard: Der Schriftsteller John Berger hat einmal geschrieben, Tiere im Zoo zeigen, dass wir den Kontakt zur Natur verloren hätten: Die Tiere blicken nicht zurück. Wie verhält sich Ihr Film zu dieser These?

Philibert: Es freut mich, dass Sie John Berger zitieren, den ich sehr schätze. Ich hätte gern gehabt, dass er zum Dreh kommt, zum Käfig von Nénette. Er hatte leider eine Augenoperation und musste absagen. Ich habe daher andere Freunde gebeten zu kommen und etwas über Orang-Utans zu sagen. Johns These will ich weder bestätigen noch widerlegen, ich stelle bloß Fragen - das Rätsel von Nénette und unserem Verhältnis zu ihr bleibt bis zum Schluss.

Standard: Entscheidend für den Film ist, dass man das Glas sieht, das den Betrachter von Nénette trennt. Wieso diese Anordnung?

Philibert: Die Idee zur Glaswand gab es von Anfang an, sie steht im Herzen des Films. Es ist ein Film über Blicke durch eine Glasscheibe. Auf der anderen Seite des Glases sieht man diese behaarte Masse, die klobig, mysteriös, eigenartig ist. Die Scheibe ermöglicht es uns, dem Tier sehr nahe zu kommen, andererseits stellt sie auch dar, was uns von dem Tier trennt und von ihm unterscheidet. Das Glas hat die Rolle einer Metapher und eine Eigenrolle - der Betrachter spiegelt sich darin. Das sieht man auch öfter im Film. Der Film bleibt auf der Seite der Besucher.

Standard: Könnte man sagen, dass Sie Projektionen filmen?

Philibert: Es geht tatsächlich nicht nur um Blicke, sondern auch um einen Voyeurismus. Nénette lebt in Gefangenschaft, wir nicht - im Grunde ist es wie eine Peepshow, in der man eine Vorstellung bekommt. Der Affe kann sich den Blicken der Zoobesucher nicht entziehen, es gibt kein Kämmerchen, in das er sich zurückziehen kann. Nénette wird immer gesehen, von neun bis 17 Uhr, das ganze lange Jahr. Im Sommer sogar bis 18 Uhr. Seit 38 Jahren. Im Französischen gibt es einen Ausdruck, der wörtlich übersetzt "Das sieht uns an" bedeutet, aber eben auch: "Das geht uns an." Uns geht das Schicksal von Nénette an, weil wir für ihre Gefangenschaft verantwortlich sind. Aber auch jenes der ganzen Art: Denn bald wird es keine Orang-Utans mehr geben.

Standard: Nénette ist auch deshalb so rätselhaft, weil sie aufgrund ihres Alters gar nicht so viel tut. War das ein Grund für die Auswahl?

Philibert: Ja, denn ich hätte auch einen Film über alle vier Affen drehen können, die man auch kurz sieht. Ich habe mich auf Nénette konzentriert, weil sie außergewöhnlich alt ist. So alt werden diese Tier in der Natur nicht. Im Gegensatz zu den anderen dreien wurde sie in der Natur geboren. Man merkt, dass sie im Unterschied zu den anderen, die nahe herankommen, Distanz zur Scheibe hält. Das macht aus ihr einen richtigen Star. Wir haben ihr auch den Film vorgeführt - sie hat sich das eine Weile angeschaut, dann ist sie abgezogen und hat sich schlafen gelegt. Ihr Sohn, der zweimal so groß ist wie sie, wurde hingegen panisch, vor allem bei den Großaufnahmen. Vielleicht hat er einen Rivalen gesehen.

Standard: Eine Pflegerin erzählt im Film, sie hätte Jahre gebraucht, um Intimität zu Nénette aufzubauen. Wie hat sich Ihr Verhältnis über den Prozess des Drehs verändert?

Philibert: Ich habe während des Drehs viel gelernt, da ich Nénette lange beobachtet habe. Ganz am Anfang hab ich die vier nicht einmal klar unterscheiden können. Nach ein paar Tagen konnte ich das, und auch Nénette hat mich wiedererkannt. Das liegt an der großen Sehschärfe, die diese Tier besitzen - in der Natur können sie ganz kleine Früchte am Boden erkennen. Vor kurzem bin ich mit einem Journalisten zu ihr gegangen. Als sie mich sah, ist sie sofort zur Scheibe gekommen. Das Pflegepersonal war richtig eifersüchtig. (DER STANDARD, Printausgabe, 24.6.2011)