Wenn Politiker auf Religion zu sprechen kommen, ist meist Vorsicht geboten. So hat die deutsche Kanzlerin Angela Merkel vor einigen Monaten gesagt: "Unser Land leidet nicht an einem Zuviel an Islam, sondern an einem Zuwenig an Christentum!" Abgesehen von den berechtigten Zweifeln daran, ob sie diesen Satz selbst glaubt, ist er doch aufschlussreich. Denn Merkel ist ja keine Vordenkerin, sondern eine Nachbeterin. Sie betet nach, was sie aus dem Volk zu vernehmen meint, und deswegen ist ihre kleine Predigt ein wichtiges Indiz dafür, dass Religion - sagen wir es zur Vorsicht einmal so allgemein - immer noch (oder wieder?) wichtig ist, Säkularisierung hin oder her.

Die Bestsellerlisten zeigen das gleiche Bild, überall wird über letzte Dinge nachgedacht, mehr aber noch über die zutiefst menschlichen Bedürfnisse nach Liebe, Geborgenheit, Trost, Freiheit und Kraft, die Margot Käßmann, vormals evangelische Bischöfin, in ihrem äußerst erfolgreichen Buch Sehnsucht nach Leben einfach einmal ernst nimmt. Im Katalog der religiösen Textgattungen würde man hier von Betrachtungen sprechen, vielleicht auch von Meditationen, die Schriftform angenommen haben. Käßmann, die sich durch Fehlbarkeit (Alkohol am Steuer) um ihr Amt gebracht, dafür aber die Herzen der Menschen erobert hat, vertritt jene heute weitverbreitete Religiosität, die sich vor allem aus der Begrenztheit des Lebens begründet: "Allein entscheidend ist, ob ich begreife, dass ich nicht aus mir selbst heraus Lebenssinn schaffen kann. "

Der darauf folgende Satz klingt dann wie eine logische Schlussfolgerung, dabei ist er alles andere als das: "Wer das nämlich versteht, wird sich Gott ganz und gar anvertrauen." Dieses Anvertrauen ist zugleich ein "Loslassen", hier berührt sich der zu neuem Gottesglauben zurückgekehrte Kulturprotestantismus mit einer Grunderfahrung der Moderne.

Wesentlich streitbarer als die integrative Margot Käßmann gibt sich der Publizist Matthias Matussek, der mit seinem Buch Das katholische Abenteuer - Eine Provokation gerade die Talkshows und Blogs aufscheucht. Dass ein bekannter Journalist sich als Anhänger der Papstkirche outet, wirkt auf den ersten Blick mutig - und erweist sich nach der Lektüre des Buches als typische Besetzung einer noch halbwegs vakanten Position im Kampf um Aufmerksamkeit. Matussek zitiert an einer Stelle den Schriftsteller Martin Walser, der einmal geschrieben hat: "Ich bin an den Sonntag gebunden wie an eine Melodie. Ich habe keine andere gefunden, ich glaube nicht, aber ich knie."

In dieser prägnant offenen Formulierung wird deutlich, dass Religion vor allem in ihren lebensweltlichen Prägungen noch nachwirkt - wie eine "Melodie", also als ästhetische oder kulturelle Erfahrung, die man ins Treffen führen kann, wenn es wieder einmal um die Ladenöffnungszeiten an Sonntagen geht. Matussek ist nun einer, der diese "Melodie" überall zu vernehmen beginnt: Was auch immer ihm unterkommt, es verweist ihn auf Grundsätzliches.

Dass er dabei ein bedenkliches Maß an Opportunismus an den Tag legt, verrät schon der erste Satz: "Erschütternder kann unsere Diesseitsgläubigkeit - grenzenloses Wachstum, technologische Vernunft - nicht scheitern als mit dieser radioaktiven Wolke, die gerade auf Tokio zutreibt, während ich diese Zeilen schreibe." Die Provokation von Matusseks Buchs, das wird hier gleich deutlich, liegt in seiner intellektuellen Dürftigkeit.

Hier macht sich ein Mann zum modernen Verfechter einer alten Religion, der von dieser nicht das Grundsätzliche sehen will, sondern nur das Beiwerk. "Der Katholizismus, mit dem ich groß wurde, war in eine faszinierende Formensprache gehüllt. Heute ringt er um Form und Fassung. " Diesem Ringen setzt Matussek einen "Thrill der Wahrheit" entgegen, der sich auf einen Alltagsglauben beruft, ohne den wir in keinen Aufzug einsteigen würden. Daraus einen Aufweis der Existenz Gottes zu deduzieren ist ein ähnlich raffiniertes Manöver wie die Anmutung einer Jenseitsgläubigkeit, die er aus der Nuklearkatastrophe in Japan ableitet. Der Katholizismus, in den Matussek sich gern hüllen würde, ist eine Schwundstufe des Feuilletons in Zeiten des Internets. Was einst eine theologisch komplexe, politisch prekäre, sozial und kulturell interessante Religion war, die neben den Kathedralen auch große Gedankengebäude hervorgebracht hat, ist nun ein schwammiges Allerlei (religionswissenschaftlich: ein Hort des Synkretismus), in dem bezeichnenderweise für Jesus außer ein paar Alibiformulierungen kein Platz ist.

"Jesus ja - Kirche nein" war vor noch gar nicht langer Zeit der Ruf von jungen Frommen, und es zeugt von der grundlegenden Wende im geistigen Leben der Zeit, dass ein Mann wie Mattusek nun mit einer kaum mehr religiös zu nennenden Begeisterung für Kirchenzugehörigkeit so viel Aufhebens machen kann.

Man wird das besser verstehen, wenn man zum Vergleich das Buch von Helmut Schmidt über Religion in der Verantwortung - Gefährdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung liest, in dem Gelegenheitstexte des Altkanzlers versammelt sind, in denen auch immer wieder von Glaubensfragen die Rede ist. Diese werden auf eine staatsmännisch trockene Weise in die Schranken gewiesen, die von der Aufklärung aufgerichtet wurden. Schmidt weiß, dass es eine "Gemeinsamkeit der sittlichen Prinzipien" ist, die Gläubige und Nichtgläubige miteinander teilen müssen, und er kann diese Gemeinsamkeit durch Erinnerungen an persönliche Begegnungen zum Beispiel mit Anwar al-Sadat oder Golda Meir besser nachvollziehbar machen.

Schmidt weiß aber auch, dass gelassenes Hantieren mit Konzepten (Toleranz, Dialog ...) genau jene Bedürfnisse nicht befriedigt, mit denen Käßmann und Matussek rechnen können. Dass es irgendwie "mehr" geben müsste als das Leben, glauben viele Menschen. Aber ob dieses Mehr tatsächlich in einer komplexen Dogmatik und anspruchsvollen Regeln bestehen soll (und das ist nun einmal die streitbare Substanz der Hochreligionen), darüber gehen sowohl Käßmann als auch Matussek mit ihren wohlfeilen Göttern zu locker hinweg.  (Bert Rebhandl/ DER STANDARD, Printausgabe, 25./26.6.2011)