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BDP-Anhänger protestieren in Diyarbakir.

Foto: Reuters

Wenn sie nur könnten, würden sie die Wahlkommission auf den Mond schießen – die Kurdenpartei BDP, die Republikanische Volkspartei (CHP) und auch die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Die Wahlaufseher von der YSK haben den türkischen Stimmbürgern und Politikern vor der Parlamentswahl vom 12. Juni und auch danach hineingepfuscht. Jetzt ist eine innenpolitische Krise da, noch bevor das neue Parlament am Dienstag zusammentritt: Weil der kurdische Politiker Hatip Dicle sein Mandat nicht antreten darf, kommen aus Protest auch die anderen 35 gewählten Parlamentarier des Kurdenbündnisses nicht.

 Der 57-jährige Dicle sitzt derzeit in Haft wegen Verbreitung „terroristischer Propaganda“, sprich angeblicher Werbung für die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK in einer Äußerung, die er 2007 getan hatte. Die Verurteilung war am 9. Juni 2011 rechtskräftig geworden, drei Tage vor der Parlamentswahl. Fragt sich, wie die türkischen Politiker nun aus dem demokratiepolitisch folgenreichen Boykott der kurdischen Abgeordneten herauskommen, den ihnen die Wahlkommission eingebrockt hat. Einmal schon ist im Parlament eine Extrawurst gebraten worden, um einem verurteilten Politiker im Nachhinein die Wahl zu ermöglichen: Es war Tayyip Erdogan im Jahr 2002. Die oppositionelle CHP stimmte damals mit. Und das ging so:

Im November 2002 gewann die erstmals antretende AKP haushoch die Wahlen, Abdullah Gül bildete die neue Regierung und einer sah von außen zu: Tayyip Erdogan, der Vorsitzende der Partei, konnte wegen seiner früheren Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe nicht bei den Wahlen antreten. Erdogan hatte 1998 – damals noch als Bürgermeister von Istanbul – bei einem öffentlichen Auftritt aus einem Gedicht zitiert ("Die Minarette sind unsere Bajonette, die Gewölbe unsere Helme, die Moscheen sind unsere Kasernen, die Gläubigen unsere Soldaten."), was das Staatssicherheitsgericht als islamistische Propaganda und Aufruf zu Hass und Feindschaft wertete.

Im Dezember 2002 bastelte das neue Parlament in Ankara eine „Lex Erdogan“. Politisch war die Lage zu absurd: großer Machtwechsel im Land, aber der Macher regiert nicht. Nur zwei Parteien waren damals im Parlament vertreten – AKP und CHP. Sie einigten sich auf ein verfassungsänderndes Gesetz, eine Amnestie für alle, die wie Erdogan wegen „ideologischer oder anarchistischer Taten“ vorbestraft waren. Der damalige Staatspräsident Necdet Sezer legte sein Veto ein, das Parlament hielt dagegen, und Sezer musste zum Jahreswechsel das Gesetz unterschreiben. Auf die Anrufung des Verfassungsgerichts verzichtete er, weil Regierung und Opposition die „Lex Erdogan“ unterstützen.

Blieb nur noch die Frage zu lösen, wie Erdogan schnell ins Parlament kommt. Unregelmäßigkeiten bei der Parlamentswahl im November in der Provinz Siirt im Südosten des Landes machten eine Nachwahl notwendig. Die Wahlkommission YSK bockte wieder und verschob diese Nachwahl vom ursprünglich festgesetzten 9. Februar 2003 auf den 9. März. Erdogan trat an, bekam um die 85 Prozent und führte fünf Tage später die türkische Regierung an. Gül, sein Platzhalter, wurde Außenminister.

Eine ähnliche Regelung sollte das Parlament für den Kurdenpolitiker Hatip Dicle finden, so wird nun gefordert. Die „Lex Erdogan“ nahm allerdings damals „terroristische Taten“ von der Amnestie aus. Die Abgeordneten müssten – sofern sie es wollten – heute einen Weg finden, um sich über ein Gerichtsurteil hinwegzusetzen und dabei zu definieren, was in der Türkei eine „terroristische“ Wortäußerung im Gegensatz zu einer „anarchistischen“ und „ideologischen“ ist. Gut möglich, dass ihnen das im Jahr 2011 leichter fällt als unter der noch starken militärischen Schirmherrschaft im Jahr 2002.