Wien - Die Familie ist für alte Menschen gefährlicher als das Spital oder die Pflegerin: "Die meiste Gewalt und Vernachlässigung gibt es im privaten Nahbereich", sagt Josef Hörl, Soziologe an der Universität Wien und Experte für Gewalt im Alter und in der Pflege.

Etwa 80 Prozent aller Pflegebedürftigen werden zu Hause von Angehörigen betreut. Gefährlich wird es, wenn die Pfleger Ehepartner sind, die seit Jahren unter der Beziehung leiden oder ein Alkoholproblem haben.

Besonders betroffen sind Demenzkranke: Etwa ein Drittel der pflegenden Angehörigen geben in Befragungen zu, schon einmal irgendeine Form von Gewalt angewandt zu haben, etwa fünf Prozent auch körperliche Gewalt wie Schläge oder Tritte. "Entgleisende Pflegeleistungen" nennt Hörl das: wenn überforderte Betreuer die Nerven oder die Geduld verlieren und Patienten stoßen, einsperren oder einfach ihre Hilferufe ignorieren.

Heime kaum untersucht

Internationale Studien kommen zu dem Schluss, dass etwa ein Viertel aller zu Hause gepflegter Menschen Gewalt erleben und etwa drei bis fünf Prozent körperlich misshandelt werden. Zu Heimen und Spitälern gibt es bisher kaum Untersuchungen. Bei Befragungen von Pflegepersonal in Deutschland und den USA gab aber ein Drittel der Befragten an, schon einmal gesehen zu haben, wie andere Pfleger Patienten körperlich misshandelten. Zehn Prozent gaben zu, es bereits selbst gemacht zu haben. Die WHO kam in ihrer neuesten Untersuchung zu dem Schluss, dass in Europa jährlich vier Millionen alter Menschen körperlich misshandelt werden - Heime und häusliche Pflege zusammengerechnet.

Das Phänomen sei in allen EU-Ländern etwa gleich weit verbreitet, sagt Hörl. Je weniger Pflegepersonal zur Verfügung steht und je größer daher der Stress ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass es zu Misshandlungen kommt. Durch die alternde Bevölkerung und immer mehr Demenzkranke wird das Problem akuter.

Gegenzuwirken ist schwierig: Alte Menschen, die ihre Angehörigen pflegen, sind oft in ihrem Verhalten nicht mehr zu beeinflussen. Ärzte, die Misshandlungen erkennen und melden sollten, sind oft unwillig, sich schulen zu lassen. Strengere Auswahlkriterien beim Pflegepersonal könnten helfen, meint Hörl. Da aber viel mehr Pfleger gebraucht werden, als sich bewerben, sei auch das schwer umzusetzen. (tob, DER STANDARD-Printausgabe, 28.6.2011)