Je komplexer der Begriff, desto problematischer der Wikipedia-Artikel, meinen ExpertInnen.

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Der Siegeszug von Wikipedia ist ungebrochen. 2011 feiert die Online-Enzyklopädie ihren 10. Geburtstag.

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Ein Leben ohne Wikipedia, das können sich die meisten Internet-NutzerInnen heute gar nicht mehr vorstellen. Die schnelle Eingabe eines unklaren Begriffs gehört heute zum Studier- und Arbeitsalltags. Seit über 10 Jahren bietet "Wikipedia - die freie Enzyklopädie" nun schon diesen Service im Netz an und hat damit unsere Vorstellung von Wissen aber auch seiner Produktion grundlegend verändert.

Zweifelsohne stimmt es, dass die Demokratisierung des Wissens hinsichtlich Zugang und Produktion durch Wikipedia vorangeschritten ist. Doch jüngst hat eine Meldung dieser euphorischen Sicht einen herben Dämpfer verpasst. Laut einer Studie, die erstmals unter WikipedianerInnen durchgeführt wurde, sind lediglich 13 Prozent der aktiv Schreibenden weiblich. Das bedeutet, dass das "Weltwissen" auch im Jahr 2011 hauptsächlich von Männern verfasst und gewartet wird.

Frauen-abschreckend?

Seit diese Studie im Jänner 2011 publiziert wurde, diskutieren Aktivistinnen nun vornehmlich im Netz darüber, warum der Frauenanteil bei Wikipedia trotz seiner freien Zugänglichkeit so niedrig ist: Schuld sei die komplizierte Oberflächen-Benutzung von Wikipedia, die Frauen abschreckt, meinen viele. Andere geben zu bedenken, dass Frauen für solche unbezahlten Spielereien einfach zu wenig Zeit hätten. Küchenpsychologisch tönt es von jenen, die Frauen zu wenig Selbstbewusstsein zuschreiben bei der Verfassung von Wissen mit Enzyklopädie-Status. "Wer bin ich, dass ich einen Eintrag von jemandem anderen einfach überschreiben darf?", fragen sich demnach sehr viel mehr Frauen als Männer, bevor sie auf der Plattform aktiv werden. Zu bedenken gegeben werden auch die rauhen Umgangsformen unter den Wiki-SchreiberInnen, wie auch eine allgemein frauenfeindliche Stimmung, die Frauen tendenziell abschrecke, sich dort aufzuhalten. Und schlussendlich sind auch viele Frauen damit konfrontiert, dass ihre Beiträge von der Community als "irrelevant" eingestuft und gelöscht werden.

Wissensaufwertung und -verzerrung

Welchen Einfluss haben diese Mechanismen auf das abgebildete Wissen? Angesichts seiner immensen Bedeutung bei der Wissensvermittlung wird von ExpertInnen immer wieder in Zweifel gezogen, dass Wikipedia alle gesellschaftlichen Bereiche gleich gut abdeckt. Sie weisen darauf hin, dass Wiki-Wissen durch die Interessen und Ansichten der AutorInnen beeinflusst wird. Von Neutralität keine Spur. "Herrschaftswissen" nennt der Leipziger Kulturjournalist und Philosoph Tobias Prüwer es schlicht, was der/die UserIn auf Wikipedia findet. "Es repräsentiert die Perspektive, die die Breite der Gesellschaft einnimmt und die ist noch immer durch die Attribute 'weiß, männlich, mittelklasse' geprägt".

Selbst Sue Gardner, Direktorin der Wikimedia-Foundation, fällt die Dominanz von (meist männlichem) Nerdwissen auf Wikipedia auf. Ihre eigene Lieblingsautorin etwa, Pat Parker, fristete auf Wikipedia mit drei Absätzen ein bescheidenes Dasein, während Soldaten-Figuren aus populären Computerspielen seitenlange Einträge ihr Eigen nennen.

Politische Begriffe

Noch schwieriger wird es bei politisch umkämpften Begriffen, zu denen zweifelsfrei auch solche, die Geschlechterverhältnisse beschreiben, gehören. Die ehemalige Wikipedia-Autorin Barbara Mürdter kann dies nur bestätigen. Sie loggte sich 2005, "ganz naiv", wie sie heute sagt, bei Wikipedia ein, um das "freie Wissen" zu verbessern und die Artikel auf den wissenschaftlich aktuellen Stand zu bringen. Ein besonderer Dorn in ihren Augen: Wenn soziologisch nicht anerkannte Theorien als Beleg für fragwürdige Aussagen herangezogen wurden. Doch ihr Engagement bei Genderthemen stieß auf totale Ablehnung und brachte ihr nervenaufreibende und zum Teil auch beleidigende Diskussionen mit Männern ein, die sich zum Teil über Mobbingmethoden als digitale Platzhirsche dieser Artikel breit machten. Von den ebenfalls männlichen Administratoren wurden sie gedeckt, obwohl sich diese Autoren ganz klar nicht an die Regeln der Neutralität und des Verzichts auf persönliche Angriffe hielten und auch keine seriösen Belege für ihre Aussagen anführten. Nach zwei Jahren warf sie als Wikipedia-Autorin entnervt das Handtuch.

 

Wie subtil dieser Machtkampf um Bedeutungsverschiebungen abläuft, kann aktuell anhand eines Begriffs wie "Väterbewegung" nachvollzogen werden. Der langjährige Wikipedia-Autor Andreas Kemper setzte sich jüngst dafür ein, dass er aus Wikipedia gelöscht wird, weil er suggeriere, dass im deutschsprachigen Raum tatsächlich eine "Väterbewegung" existiere: "Als solche verstehen wir in der Soziologie eine Bewegung von Männern, die sich für Karenzmodelle für Väter, mehr Spielplätze und alternative Geschlechtermodelle einsetzt, die Gruppen vor Ort bildet, usw." Real zeige sich in Deutschland nur eine Väterrechtsbewegung, die vor allem die Stärkung von Väterrechten gegenüber Müttern forciere. Sein Lösch-Antrag wegen unkorrekter Verwendung des Begriffs wurde abgelehnt.

Die Probleme steigen mit der Komplexität

Prüwer von der "Forschungsinitiative Critical Point of View" gibt weiters zu bedenken: Je komplexer ein Thema ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass der Wiki-Text unangemessen ausfällt. Als Beispiel nennt er den Artikel zu Feminismus. "Das ist ein Sammelsurium, dem man außer ein paar Jahreszahlen und Namen wenig entnehmen kann." Neben der Struktur kritisiert er außerdem, dass die derzeit nicht nur im akademischen Bereich sehr einflussreiche Perspektive des Post-Feminismus oder Queer-Theorie in nur vier Sätzen abgehandelt wird. Auslassungen sieht er auch bei den Einträgen zu "Maskulismus"/"Männerrechtsbewegung": "In diesen Artikeln finden die LeserInnen nichts über deren sexistische und chauvinistische, oft auch autoritäre, nationalistische, rassistische und antisemitistische Schlagseite, bzw. dass Kritik an ihnen geübt wird", gibt Prüwer zu bedenken. Die Liste an problematischen Einträgen ließe sich lange fortsetzen.

Der Zugang zu Wissen zeigt sich in der Gegenwart dank Wikipedia freier denn je, doch der Preis dafür ist die Verzerrung der Bedeutungen von politisch umkämpften Begriffen, wie sie sich zu Hauf in den Sozial- und Geisteswissenschaften finden. Der Grundsatz von Wikipedia, Artikel von einem "neutralen Standpunkt" aus zu verfassen, lässt sich gerade auch wegen der breiten gesellschaftlichen Beteiligung, zu dessen Akteure auch Interessensvertretungen und politisch orientierte Gruppen zählen, schlicht nicht verwirklichen. Zuletzt haben sich in Deutschland Wikipedia-ForscherInnen aus den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften zur "Forschungsinitiative Critical Point of View" (CPOV) zusammengeschlossen, um die Relevanz von Wiki-Wissen jenseits der Kategorie Wissenschaftlichkeit zu erforschen. Die Ergebnisse zeigen, dass eine kritische Medienkompetenz im Netz durchwegs notwendig ist, wenn sensibles Wissen digital nicht verschüttet werden soll. (Ina Freudenschuß, dieStandard.at, 30.6.2011)