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Leere Sitze bei der Angelobung

Foto: Reuters/t Bektas

Der Unterschied zwischen „einen Baum aufstellen“ und „auf einen Baum steigen“ liegt darin, dass der Baumaufsteller einen bestimmten Zweck verfolgt, sei es auch nur, seinen Unmut zu bekunden; während der Auf-den-Baum-Steiger zwar auch ein für alle sichtbares Signal setzen will, sich aber gleichzeitig mit der Frage befassen muss, wie er wieder halbwegs anständig hinunterkommt.

Und jetzt einmal auf das neu gewählte türkische Parlament übertragen: Die Kurdenpartei BDP hat einen Baum aufgestellt und boykottiert die Große Nationalversammlung der Türkei (TBMM), obwohl sie zunächst 36 Sitze errungen hatte. Die Kurden und ihre Verbündeten protestieren damit gegen die Aberkennung des Mandats von Hatip Dicle und die Nichtfreilassung von fünf weiteren inhaftierten, aber gewählten kurdischen Politikern (Selma Irmak, Kemal Aktaş, Faysal Sayirildiz, Ibrahim Ayhan, Gülser Yildirim). Baum also aufgestellt, kurdische Abgeordnete machen bis auf weiteres ein Mini-Parlament in Diyarbakir.

Jetzt die CHP. Die säkulare Republikanische Volkspartei unter Führung von Kemal Kilicdaroglu zählt unter ihren gewählten 135 Abgeordneten auch zwei Herren, die derzeit – unter durchaus fragwürdigen Umständen – in Untersuchungshaft sitzen: Mehmet Haberal und Mustafa Balbay, Chirurg und Universitätsdirektor der eine, Leiter des Ankara-Büros der Tageszeitung Cumhuriyet der andere. Beide sind verdächtigt, mit dem angeblichen staatsumstürzlerischen Geheimbund Ergenekon in Verbindung zu stehen, doch mehr als einen Haftbefehl hat die türkische Justiz in mehr als zwei Jahren nicht produziert. Seit dem 12. Juni sind Haberal und Balbay Abgeordnete, ebenso wie die fünf kurdischen Politiker. Und wie ihren kurdischen Parlamentskollegen hat das Gericht auch ihnen keine Haftentlassung gewährt (wegen angeblicher Fluchtgefahr und möglicher Zerstörung von Beweismitteln). Nicht ganz erwartet hat die CHP-Fraktion bei der Parlamentseröffnung am Dienstag nun den Eid verweigert, den Abgeordnete zu Beginn ihrer Amtszeit schwören müssen. Kilicdaroglu ist auf einen Baum geklettert.

Über die rechtlichen und praktischen Folgen einer solchen Eid-Verweigerung wird eifrig diskutiert: Genießen die CHP-Abgeordneten trotzdem Immunität, dürfen sie überhaupt ins Parlamentsgebäude, können die Ausschüsse besetzt werden, dürfen sie abstimmen? Lange kann das so wohl nicht gehen. Mindestens ebenso schwierig zu handhaben ist die Frage, wie Kilicdaroglu und Parteifreunde wieder von dem Baum herunterkommen: Soll die Regierung die Justiz anweisen, die beiden CHP-Abgeordneten freizulassen? Oder die Justiz unter dem Eindruck des Abgeordneten-Boykotts einmal schnell ihre Entscheidungen revidieren? Alles nicht sehr demokratisch.

Die CHP hat nun selbst Vorschläge gemacht. Das neue Parlament soll das Strafgesetz ändern und zum Beispiel ein Gesetz erlassen, dass dezidiert ein Abgeordnetenmandat auch für noch nicht rechtskräftig verurteilte Bürger ermöglicht. Dann könnte auch der mutmaßliche Mörder von Hrant Dink gewählt werden, merkten Politiker der Regierungspartei AKP an. Leute, die ihn als Kandidaten aufstellen, und andere, die ihn auch noch wählen würden, gäbe es sicherlich, sagten sie. Was uns zur rechtsnationalistischen MHP bringt: Die hat auch einen Ergenekon-Verhafteten als virtuellen Abgeordneten in ihren Reihen – den General a.D. Engin Alan. Doch anders als die Kurden gingen die stramm Rechten ins Parlament, und anders als die größte Oppositionspartei CHP haben sie sich auch das Schwören nicht nehmen lassen.