Regisseur Artan Minarolli und Hauptdarsteller Nik Xhelila.

Foto: Alive

"Alive!" erzäht die Geschichte des Studenten Koli, der nach der Rückkehr in das Heimatdorf seines Vaters in eine Blutfehde verwickelt wird.

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Die Tradition der Blutrache in den Bergen im Norden Albaniens basiert auf dem alten Ehrenkodex "Lek Dukagjine", einem Gewohnheitsrecht, das sich seit Jahrhunderten in dieser geografisch sehr isolierten Region erhalten hatte. Ursprünglich war die Blutrache ein wesentliches Element vieler archaischer Gewohnheitsrechtsordnungen auf der ganzen Welt. Das heute eigentlich nicht mehr gültige albanische "Lek Dukagjine"- auch "Kanun" genannt - beinhaltete aber nicht nur brutale Regelungen wie die der Blutrache, sondern viele andere Richtlinien, die das friedliche Zusammenleben der Menschen organisieren sollten, wie etwa eine verpflichtende und ehrliche Gastfreundschaft.

"Heute missbrauchen einige vereinzelte Menschen dieses längst nicht mehr gültige Gesetz, um sich nicht schuldig zu fühlen, wenn sie etwas Kriminelles tun", sagt Artan Minarolli, Drehbuchautor und Regisseur des am 1. Juli in den österreichischen Kinos startenden Films "Alive!". daStandard.at hat mit ihm und Hauptdarsteller Nik Xhelilaj über das archaische und dennoch immer noch aktuelle Phänomen der Blutrache gesprochen.

daStandard.at: Herr Minarolli, sind Sie bei ihren Recherchen zum Drehbuch mit Menschen in Kontakt gekommen, die selbst in eine Blutfehde verwickelt waren?

Artan Minarolli: Ja. Ich habe die typischen Gegenden in den Bergen im Norden von Albanien besucht. Wenn man die Leute dort danach fragt, dann sagen die meisten, es gibt diesen Brauch nicht mehr. Einmal habe ich bei einer Familie übernachtet und gefragt, ob sie Fälle zur Blutrache in der Gegend kennen und sie verneinten. Erst später habe ich erfahren, dass genau diese Familie selbst in einer Blutfehde mit einer anderen stand. Sie schämten sich, davon zu erzählen.

Nik Xhelilaj: Ich denke, sie wollen nicht darüber sprechen, weil sie wohl wissen, dass sich die Dinge in der heutigen Zeit längst verändert haben. Sie spüren ja auch die Reaktionen der anderen Menschen rundherum, auch die der Menschen aus den Städten. Und sie spüren, dass sie nicht zur neuen, modernen Gesellschaft gehören. Aber innen drinnen haben sie nach wie vor dieses Ehrgefühl, diesen Stolz.

daStandard.at: Dieses Ehrgefühl ist ja etwas, in das man sich als Außenstehender nur schwer hinein versetzen kann. Wie haben Sie sich auf die Hauptrolle des Films vorbereitet?

Xhelilaj: Am Anfang war es sehr schwer für mich, zu begreifen, dass dieses alte Gewohnheitsrecht, der "Kanun", für manche Menschen heute noch Gültigkeit hat. Ich glaube, das war auch ein Grund, warum ich für diese Rolle ausgewählt wurde. Ich konnte mich sehr gut hinein fühlen, ein Student zu sein, der nichts darüber weiß. Als Vorbereitung habe ich Ismail Kadares Buch "Der zerrissene April" gelesen, aber auch die enge Zusammenarbeit mit dem Regisseur hat mir sehr geholfen, Artan hat mir sehr viel darüber erzählt.

Minarolli: Es geht mir in meinem Film aber eigentlich nicht darum, über diese alte Tradition der Blutrache zu erzählen. Es geht mehr darum, ein Schicksal eines Studenten in Albanien zu schildern. Wie kann ein Student oder junger Mensch in Albanien seinen Ideen und Träumen folgen? Ist das möglich oder nicht? Das Thema Blutrache habe ich dazu gewählt, weil es ein sehr starkes Thema ist, es ist eine reale Gefahr für das Leben eines Menschen in Albanien. Das heißt aber nicht, dass die Blutrache überall präsent ist. Man spürt sie speziell in Tirana zum Beispiel gar nicht.

daStandard.at: Zu Zeiten der Diktatur von Enver Hoxha war die Blutrache, so wie heute auch, verboten. Damals starb die Tradition sogar fast aus, nach der Wende Anfang der 1990er Jahre flammte sie aber wieder auf. Warum?

Minarolli: Ich glaube, das war so eine Art wiedererlangte Freiheit nach einer Diktatur. Einige Leute haben diese neue Freiheit als Gelegenheit wahrgenommen, die alten Traditionen und Verpflichtungen wieder aufleben zu lassen.

Xhelilaj: Die moderne Demokratie akzeptiert das alte Gesetz des Kanun nicht. Diejenigen, die heute jemanden in einer Blutfehde töten, kommen ins Gefängnis, so wie bei jedem anderen Mord auch.

daStandard.at: Warum hat das Verbot im Hoxha-Regime funktioniert?

Minarolli: Das ist ungefähr so wie in der Diktatur von Mussolini, zu dieser Zeit war die Mafia in Sizilien zerstört. In einer Diktatur gibt es keinen gerechten Prozess, da kommt einfach die ganze Familie ins Gefängnis. Also hat sich in Albanien niemand auch nur getraut, darüber nachzudenken, weil jeder wusste, dass die ganze Familie und alle Leute rundherum bestraft werden würden. Heute kann nur der Täter zur Rechenschaft gezogen werden und eine Demokratie ist auch gesetzlich verpflichtet, alle Fakten genau zu prüfen und beweisen. Das macht die Nachvollziehbarkeit schwieriger und war mitunter ein Grund, warum die Tradition der Blutrache in den neunziger Jahren wieder begonnen hat. Aber ich glaube, sie stagniert jetzt wieder. Sie macht einfach keinen Sinn.

daStandard.at: Wie sieht es mit der Meinung der jungen Leute Albaniens dazu aus? Normalerweise ist es die neue Generation, die sich gegen so sinnlose alte Bräuche auflehnt.

Xhelilaj: Das hängt davon ab, ob sie in der Hauptstadt oder anderen großen Städten leben, oder in einem Dorf in den Bergen, wo sie noch dieser alten Kultur und Tradition unterliegen, wo das Wort des Großvaters Gesetz ist. In dem Ort, in dem wir die ersten Szenen des Films drehten, gab es nach wie vor einen großen Einfluss der alten Tradition auf die jungen Leute. Drei Monate bevor wir dort waren, wurde ein verliebtes Paar, das sich heimlich getroffen hatte, von den zwei Brüdern des Mädchens erschossen.

Minarolli: Man kann einzelne Fälle wie diesen finden, speziell bei Menschen, die nach wie vor in ländlichen Gegenden wohnen. Für uns aus der Hauptstadt ist es aber eher so, dass wir diese Leute eher als verrückt ansehen, als zu sagen, sie folgen eben einer alten Tradition.

daStandard.at: Wird in Albanien aktiv gegen die Blutrache gearbeitet?

Minarolli: Ja, es gibt Institutionen in Albanien, die sich dafür einsetzen, und es gibt einige Vermittler, das sind sehr beachtete Leute, die versuchen, Frieden zwischen den verfeindeten Familien zu stiften.

daStandard.at: Wie sieht die Arbeit dieser Vermittler genau aus?

Minarolli: Nach Gesprächen mit beiden Familien organisieren sie zum Beispiel eine Art Zeremonie der Friedensstiftung. Sie laden viele Leute aus dem Dorf ein, die betroffene Familie, die das Blut ihres Verwandten rächen möchte, zu besuchen. Wenn sich dann alle im Haus befinden, befragt der Vermittler den vermeintlich zukünftigen Mörder vor versammelter Runde, was er vorhabe - und einen geplanten Mord zu gestehen beschämt ihn. Die Aufmerksamkeit der vielen Gäste, die sein Haus beehren, lassen ihn dann womöglich "Nein" zur Weiterführung der Blutrache sagen. Oft wird auch der Feind selbst ins Haus eingeladen.

daStandard.at: Die Gastfreundschaft steht im "Lek Dukagjine" ja auch ganz oben.

Minarolli: Ja, man sagt, der sicherste Ort ist das Haus des Feindes! Und laut den archaischen Regeln kann ein Gast so lange bleiben wie er will. Die Gastgeber können ihn nicht fragen, wie lange er vorhat, zu bleiben, denn das wäre beschämend für sie. Es gab einen Fall vor vielen Jahren, da blieb ein Mann für viele Jahre im Haus seiner verfeindeten Familie, die verpflichtet war, ihn als Gast zu ehren. Diesem Prinzip folgen auch die Vermittler.

daStandard.at: Wie sieht es dann mit dem verletzten alten Ehrgefühl aus?

Minarolli: In Wahrheit wollen diese Familien niemanden umbringen. Sie fühlen sich aber verpflichtet dazu, weil es die alte Tradition vorschreibt. Sie verlangen Respekt von dem Mann, dem sie drohen. Ich denke, sie wollen eher, dass er einfach verschwindet. Wenn das passiert, sind sie oft schon zufrieden. Es sind häufig sehr alte Blutfehden, und sie wollen nicht wirklich weiter töten, weil die Konsequenzen ja auch weitreichend sind.

daStandard.at: Die Spirale kann sich ja ewig weiter drehen. Wenn eine Familie wieder jemanden tötet, dann ist für sie auch das schöne Leben vorbei.

Minarolli: Ja, es gibt heute nach wie vor Familien, die sich in ihrem Haus einsperren. Ihre Feinde wissen das und fühlen sich respektiert. Bis jetzt ist mir kein Fall untergekommen, bei dem die andere Familie das Haus bewacht und nur darauf wartet, die Blutrache weiterzuführen. Die Familie weiß, sie sperren sich ein, und drücken ein Auge zu, weil es ihnen gefällt, dass die anderen die Regeln respektieren. Ich habe jedenfalls von keinem Fall gehört, wo jemand aus einer eingesperrten Familie umgebracht wurde.

Xhelilaj: Es ist praktisch Strafe genug für sie, sich einsperren zu müssen. Die Kinder gehen nicht in die Schule und sie haben ja praktisch kein Leben. (Jasmin Al-Kattib, daStandard.at, 30. Juni 2011)