Auch der kommunistische Urvater Karl Marx darf bei den Liederabenden nicht fehlen: Auftritt des Chors der Pioniere von Chongqing auf einer Pekinger Bühne. Darüber die Aufschrift "Die Rote Fahne weht hoch."

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Kräne und Lastwagen fahren nachts auf dem Platz des Himmlischen Friedens auf. Als Peking erwacht, steht ein neues Monument auf dem Platz. 15 Meter hoch ist das stahlverstärkte rot-gelbe Emblem, das von beiden Seiten im Relief Hammer und Sichel zeigt. Es steht gegenüber dem Tiananmen-Tor, an dem das Porträt von Parteigründer Mao Tse-tung hängt. Um das kommunistische Symbol haben Gärtner ein riesiges Beet mit neun roten Herzen aus Begonien angelegt.

"Rote Blumen für die Partei" nennt Designer Xing Yujie das Arrangement. Es steht für das heute, am 1. Juli, gefeierte 90-Jahr-Jubiläum der Partei. Die Nachrichtenagentur Xinhua meldet, dass Pekings Führung anordnete, das Denkmal in der Nacht aufzubauen, um Verkehrsstörungen für die Stadtbevölkerung zu vermeiden."

So rücksichtsvoll ging die Partei früher nicht mit ihrem Volk um. Zum Jubiläum erschien jetzt die erste offizielle KP-Geschichte über die 30 Jahre von 1949 bis 1978. Die Fortsetzung fehlt. Die jüngsten drei Jahrzehnte der Reformzeit sind noch zu heikel.

Selbst mit der Geschichte vor 1978 taten sich die Forscher schwer, gestand der Vizedirektor der ZK-Abteilung für Parteigeschichte, Li Zhongjie, ein. 16 Jahre lang quälten sie sich damit ab, wie sie der Öffentlichkeit die verheerenden Kampagnen und furchtbaren Verfolgungen unter Maos Herrschaft erklären könnten. Unter Pekings Vorgabe, auf keinen Fall eine Debatte über die Vergangenheit und die Schuldfrage auszulösen, produzierten sie verworrene Sprachregelungen.

Etwa wenn erklärt wird, wie Mao und seine Gefolgsleute mit ihrem wahnwitzigen Großen Sprung und den Volkskommunen 1958-1960 China zwar in seine schlimmste Hungersnot stürzten, aber damit keine Verbrechen begingen - obwohl offiziell 1960 zehn Millionen Chinesen starben.

Nicht alle machen diese Geschichtsklitterung mit. Ein Wortführer einer anderen Aufarbeitung der Geschichte ist Vizekulturminister Yu Youjun. 2007 fiel er in Ungnade, erhielt aber 2011 wieder ein Regierungsamt. Yu nutzte die Zwangspause, um den dritten Band seines Mammutwerks unter dem Titel Der Sozialismus in China 1919 bis 1965 zu beenden. Im gerade veröffentlichten und schon in zweiter Auflage gedruckten Buch scheut er offene Worte nicht. Zu den Hungertoten 1960 zitiert er chinesische Experten mit anderen Zahlen: "15, 21, sogar 33 und 35 Millionen." Yu widerspricht auch der Mär, dass Chinas Führer damals nicht wussten, was sie verbrochen hatten. Er zitiert den damaligen Staatspräsidenten Liu Shaoqi, der wörtlich zu Mao sagte: "So viele sind verhungert. Die Geschichte wird dich und mich dafür zur Verantwortung ziehen. Dass es zu Kannibalismus kam, wird später in Büchern stehen."

90 Minister im Roten Chor

Chinas Parteiführung versucht überall zu verbieten, dass ihre Geschichte so diskutiert wird. Sie überflutet stattdessen die Gesellschaft mit einer Propagandawelle, verschärft in den Provinzen die Kontrolle über das Internet. Die einwohnerstärkste Nation der Erde muss der Partei millionenfache Ständchen bringen. "Rote Lieder" heißen die Hymnen. Schanghaier Taxifahrer singen sie nach Schichtwechsel. 90 Pekinger Minister und Vizeminister versammelten sich zum Roten Chor. 40.000 Teilnehmer sangen am Mittwoch im Olympiazentrum von Chongqing - ein neuer Rekord, den der Stadtstaat am Jangtse aufstellte.

Eine Erklärung bietet der Shanghaier Autor Ye Yonglie an. Er verweist auf den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991. Der habe Chinas Führung auch deshalb so geschockt, weil sie von fern miterlebte, dass keiner der 17 Millionen Mitglieder der KPdSU einen Finger rührte, um die Partei zu verteidigen.

Tabuisierung der Geschichte und Massensingen hält man für ein geeignetes Rezept dagegen. Absolutes Kultlied, das überall und derzeit täglich gesungen wird, ist die Strophe "Ohne Kommunistische Partei gibt es kein neues China." Solange Chinesen das glauben, hofft die KP weitere 90 Jahre an der Macht zu bleiben. (Johnny Erling aus Peking, STANDARD-Printausgabe, 1.7.2011)