Die Reaktionen von Washington über Brüssel, Paris, Berlin bis Madrid auf das Verfassungsreferendum in Marokko sind überschwänglich - vom "Weg zur Demokratie" und "einer bedeutenden Antwort auf die legitimen Wünsche des marokkanischen Volkes" ist die Rede. Es herrscht Erleichterung, dass der wichtige Verbündete nicht den Weg Tunesiens oder Ägyptens geht.

Dabei wird gerne übersehen, dass der marokkanische Prozess mehr Schönheitsfehler als tatsächliche Auswirkungen auf das politische System hat: König MohammedVI. tritt kaum Befugnisse ab. Zwar muss der Regierungschef künftig aus den Reihen der stärksten Parlamentsfraktion stammen, und er darf ohne Ausnahme alle Minister ernennen, doch der Monarch hat den Kabinettsvorsitz inne und damit weiterhin die Hoheit über die Politik. Außerdem ernennt er Diplomaten, bleibt Oberbefehlshaber der Armee, steht dem Sicherheitsrat und dem Hohen Richterrat vor. Der König, per Verfassung auch der "Führer aller Gläubigen" , kann ganz allein den Notstand verhängen.

Eine echte parlamentarische Monarchie - wie jene in Spanien, die Marokko offiziell als Vorbild diente - sieht anders aus. Das beklagt auch Marokkos Demokratiebewegung. Sie fordert eine verfassungsgebende Versammlung anstatt der von MohammedVI. diktierten zaghaften Reförmchen. Sie will, dass der König nur repräsentierender Staatschef ist. Wer glaubte, dass die Proteste nach dem Referendum abflauen, täuschte sich. Am Sonntag gingen wieder Zehntausende auf die Straße. Durch das Referendumsergebnis fühlen sie sich in ihrer Haltung bestärkt.

Dass die Ja-Stimmen überwältigend hoch ausfallen würden, war zu erwarten. Doch die Wahlbeteiligung verwundert: Selbst internationale Beobachter sprachen von spärlich besuchten Wahllokalen. Auch wenn dies von den Verbündeten übersehen wird, deutet alles darauf hin, dass die Leiter der Wahllokale - alles Beamte des Innenministeriums - in ihrem Bestreben, den königlichen Reformen Glaubwürdigkeit zu geben, zu weit gegangen sind.

Die Protestierenden sehen ihre Stunde gekommen und glauben, dass MohammedVI. mit der ungenügenden Selbstreform bereits seine letzte Munition verschossen hat. Die Parolen werden nun noch lauter und radikaler. Der Westen läuft nach Tunesien und Ägypten Gefahr, abermals die Chance zu verspielen, kritische Distanz zu wahren und genau hinzuhören und hinzuschauen. (Reiner Wandler/DER STANDARD, Printausgabe, 5.7.2011)