Zur Person: Behrouz Khosrozadeh, 1959 in Buschehr (Iran) geboren, lebt seit 1985 in Deutschland und arbeitet als Politologe und Publizist. 2003 promovierte er am politikwissenschaftlichen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen, wo er von 2004 bis 2006 als Lehrbeauftragter tätig war. Khosrozadeh ist Buchautor mi zahlreichen Veröffentlichungen. Er schreibt für renommierte Blätter in Deutschland und der Schweiz, darunter für "Berliner Zeitung", "Handelsblatt", "Tagespost", "Neue Zürcher Zeitung". Im Oktober 2007 erschien sein letztes Buch beim Berliner Verlag Dr. Köster: "Die Ayatollahs und der Große Satan. Die Beziehungen Iran - USA im historisch-analytischen Überblick."

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Kampf der Giganten?

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Das iranische Establishment ist wütend. Und zwar auf Mahmud Ahmadinedschad. Der in Deutschland lebende iranische Autor und Politologe Behrouz Khosrozadeh stellt im derStandard.at-Interview die These auf, dass Ahmadinedschad einen politischen "Sinneswandel" durchmacht, der sogar zum "Schulterschluss mit den Demokratiebestrebungen des Volkes" reichen könnte. Er nähere sich allmählich oppositionellen „liberalen" Positionen. Gerade erst wurde bekannt, dass Ahmadinedschad zum Beispiel seine zuständigen Minister angewiesen hat, von "strikter Geschlechtertrennung an den Universitäten" und der Schaffung von "geschlechtspezifischen Fächern" abzusehen - eine "schallende Ohrfeige" für die Geistlichen, so Khosrozadeh.

Was Ahmadinedschad dazu treibt ist ein Machtkampf, der in diesen Tagen einen weiteren Höhepunkt erreicht hat: der Präsident gegen die allmächtigen Religionsführer. Der Präsident greift nun das Regime des Welayat-e Faqih (Herrschaft des Rechtsgelehrten) frontal an. Er kündigte an, dem iranischen Volk "Wahrheiten" zu enthüllen. Laut Khosrozadeh habe er dabei mehrere Trumpfkarten: "Der Präsident könnte dem Volk zum Beispiel mitteilen, dass die Fäden der ganzen gesellschaftspolitischen Schikane der Bürger, von deren barbarischen Ausmaß die Außenwelt keinen blassen Schimmer hat, direkt vom Hof des Religionsführers gezogen werden." Eine Konfrontation, die Ahmadinedschad das Leben kosten könnte, so Khosrozadeh. Der einzige, der von diesem Konflikt profitieren könnte, ist laut Khosrozadeh ausgerechnet Syriens Machthaber Assad.

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derStandard.at: In einem Interview auf derStandard.at vor zwei Monaten haben sie die Krise im Iran als sehr dramatisch bezeichnet. Jetzt habe sie sich weiter verschärft. Präsident Ahmadinedschad habe dem Religionsführer indirekt gedroht, sollte die Verhaftung seiner Mitarbeiter fortdauern, würde er sich an das iranische Volk wenden und "Wahrheiten" enthüllen. Ahmadinedschad hat solche Drohungen schon öfters ausgestoßen. Was ist jetzt anders?

Khosrozadeh: Das letzte Mal, dass ein Präsident es gewagt hatte, die Instanz des Religionsführers herauszufordern, war im Juni 1981. Irans erster Präsident, Abol-Hassan Bani-Sadr drohte Ayatollah Khomeini mit einem Referendum, welches faktisch die Frage "Du oder ich" stellte. Wenige Wochen später schaffte es Bani-Sadr nur knapp, dem sicheren Tod zu entgehen und sich nach Paris ins Exil zu begeben, wo er sich bis heute aufhält. Seitdem galt ein frontaler Angriff auf das Regime des Welayat-e Faqih (Herrschaft des Rechtsgelehrten) als Tabu. Dieses Tabu hat Ahmadinedschad gebrochen. Der Tabu-Brecher ist ausgerechnet eine Person, die unter den Fittichen Ayatollah Khameneis zur höchsten Instanz der Exekutive gehievt wurde.

Ohne Khamenei hätte es der Nobody Ahmadinedschad nicht über das Amt des Teheraner Bürgermeisters hinaus geschafft. Das macht das Establishment zusätzlich zornig. Letzte Woche hat Ahmadinedschad in der Position des Präsidenten die Revolutionswächter (Sepah) ironisch als "Schmuggelbrüder" bezeichnet, die durch ihre außer Kontrolle stehenden illegalen Grenzgänge bzw. See-Plattformen Waren- und Waffenschmuggel betreiben und sich mit astronomischen Summen bereichern. Mit diesen im Inland Aufsehen erregenden Äußerungen, die die Interessen des Umfeldes des Religionsführers empfindlich tangieren, hat Ahmadinedschad dem Machtkampf eine völlig neue Dimension verliehen. Damit will er andeuten, dass er keinen Millimeter von seiner Position abweichen werde.

derStandard.at: Welche "Wahrheiten" meint er genau und haben Ahmadinedschads Gegner nicht auch gegen ihn genügend in der Hand?

Khosrozadeh: Ahmadinedschad hat mehrere Trumpfkarten. Sie zu enthüllen, würde für die Steinzeitayatollahs unter Führung Khameneis samt ihrem Anhang, darunter die Revolutionswächter, einen Albtraum bedeuten. Der Präsident könnte dem Volk mitteilen, dass die Fäden der ganzen gesellschaftspolitischen Schikane der Bürger, von deren barbarischen Ausmaß die Außenwelt keinen blassen Schimmer hat, direkt vom Hof des Religionsführers gezogen werden, womit er in der Tat recht hat.

Weder Sepah, noch die Bassidsch-Miliz noch die zivilgekleidete Schlägerbande (Labas-Schkhsiha) stehen unter Kontrolle der Regierung. Wenn Ahmadinedschad die Revolutionswächter als Schmuggelbande denunziert, würde er auch dieses Faktum auf den Tisch legen. Ahmadinedschad hat oft genug zu verstehen gegeben, dass er mit diesen Machenschaften nicht einverstanden ist und dass er (für seine Verhältnisse) eine "Liberalisierung der Gesellschaft" propagiert.

derStandard.at: Das bedeutet konkret?

Khosrozadeh: Heute ging diese ebenfalls Aufsehen erregende Nachricht über die Nachrichtenagenturen, dass Ahmadinedschad überraschend seinen Minister für Wissenschaft, Forschung und Technologie, Kamran Daneshjoo sowie die Ministerin für Gesundheit und Medizinische Bildung, Marzieh Vahid-Dastjerdi, schriftlich angewiesen hat, von der Implementierung des angestrebten Projekts "strikte Geschlechtertrennung an den Universitäten" und die Schaffung von "geschlechtspezifischen Fächern" abzusehen. Ahmadinedschad hat ebenfalls angeordnet, die vorzeitige (Zwangs-) Pensionierung der dem Regime kritisch-illoyal gegenüber stehenden Hochschuldozenten einzustellen. Interessant ist, dass der Präsident bisher insbesondere hinter dem Letzteren stand. Die strikte Geschlechtstrennung an den Universitäten wurde in der letzten Zeit vom konservativen Klerus mit Vehemenz gefordert. Ahmadinedschads jüngste Anweisungen kann man als eine schallende Ohrfeige für die Geistlichkeit deuten.

Er könnte ebenfalls die schweren Menschenrechtsverletzungen, welche die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft erregt haben, sodass der UN-Menschenrechtsrat einen Sonderbeauftragten für den Iran einberufen hat, zu Recht auf Khamenei und seine Bande schieben.

derStandard.at: Ahmadinedschad wandelt sich?

Khosrozadeh: Irans Präsident hat in seinen bisherigen sechs Jahre Präsidentschaft die Wirtschaft ruiniert und dem Land durch eine aggressive Außenpolitik, darunter sein Atomprogramm, Schaden in Milliardenhöhe zugefügt. In ihm sehe ich dennoch ein starkes pragmatisches Potenzial. Das könnte sogar für einen Schulterschluss mit den Demokratiebestrebungen der Mehrheit des Volkes reichen. Es fällt zudem auf, dass Ahmadinedschad seit langem keine scharfe Kritik an die Opposition gerichtet hat. Das ist meine Hypothese. Sollte dieses Stadium eintreten, wäre die oppositionelle "Grüne Bewegung" gut beraten, Ahmadinedschad zu unterstützen, den Interessen des Landes und des Volkes wegen.

Im Nahen Osten im Allgemeinen und im Iran im Besondern ändern sich die politischen Konstellationen täglich. Dem müssten Experten und vernunftorientierte Politiker Rechnung tragen. Leider tun sich meine Landsleute schwer, zwischen Hassgelüsten und Erfordernissen der Zeit eine pragmatische Haltung einzunehmen. Ich denke, das "Phänomen Ahmadinedschad" ist bisher verkannt worden. Er ist längst nicht mehr länger der "Zwerg-Diktator", als den ihn der Präsident der Columbia-Universität, Lee Bollinger, im September 2007 in der in der Aula der Universität bezeichnet hat - während Ahmadinedschads als Gast anwesend war.

derStandard.at: Ist Khamenei nicht ein zu übermächtiger Gegner?

Khosrozadeh: Der Gegner ist gewiss übermächtig. Er braucht nur die Teheraner Sepah-Division "Seyed el-Schohada" in Richtung der "Pastor-Avenue" (dem Sitz des Präsidenten) aufmarschieren zu lassen. Das Phänomen Ahmadinedschad samt seiner "abweichenden Strömung" würde politisch und wenn notwendig auch physisch erledigt sein. Die Folgen wären völlig unvorhersehbar. Khamenei könnte sodann nur noch mit einer nackten Militärregierung (zumindest in Teheran) weiter regieren. Solche Schritte will Khamenei meiden. Er pfeift seine Leute, darunter die Parlamentarier zurück. Diese haben es nicht einmal erreicht, Ahmadinedschad ins Parlament zu zitieren, damit er Kritikern Rede und Antwort steht.

Der Anhang Khameneis ist dem Präsidenten nicht gewachsen. Mit der Korruptionskarte kann Khamenei nicht trumpfen. Denn sein Umfeld ist viel korrupter als die Mitglieder der abweichenden Strömung. Obendrein hat der Präsident durch seine populistischen Maßnahmen, die der armen Schichten in Städten und Dörfern zugute gekommen sind, Pluspunkte bei diesen Bevölkerungsgruppen gesammelt. Da kann Khamenei mitnichten mithalten. An dieser Stelle muss ebenfalls hinzugefügt werden, dass Ahmadinedschad zwar Vetternwirtschaft betrieben hat und Verwandte und Freunde auf politisch-ökonomisch lukrativen Schaltstellen gesetzt hat, ihm selbst jedoch keine materielle Bereicherung im Amt nachgewiesen werden kann. In Teheran munkelt man, dass der Präsident immer noch von seinem Gehalt als Universitätsdozent lebt und auf das Präsidentengehalt verzichtet hat.

derStandard.at: Sie bezeichnen den Machtkampf um einen um die Existenz der Kontrahenten, der in letzter Konsequenz blutig ausgetragen werden könnte.

Khosrozadeh: Sepah und Khamenei sind durch jüngste Enthüllungen Ahmadinedschads höchst alarmiert. Der Präsident hat klar gemacht, wie weit er zu gehen entschlossen ist. Ich denke, Ahmadinedschad hat nur dann realistische Chancen, wenn er seine Karten mit einem gekonnten Timing ausspielt. Seine Schachfiguren darf er weder zu früh noch zu spät in Bewegung setzten, denn das könnte ihn gar die physische Existenz kosten. Er hat bisher bewiesen, dass er Meister seiner Zunft ist. Er gibt seinen engen Mitarbeitern unermüdlich Rückendeckung und lässt sie nicht fallen. Ein Attribut, welches seine Vorgänger Rafsandschani und Khamenei oft vermissen ließen. Das ist der Grund dafür, dass bisher seine engen Freunde und Funktionäre wie seine wichtigsten Berater vor Verhaftungen verschont geblieben sind.

In Sepah sehe ich den Willen, Ahmadinedschad durch ein Attentat seitens eines vermeintlich gutwillig den Interessen des Regimes dienenden Einzeltäters zu beseitigen. Für Khamenei verkörpert die heutige "abweichende Strömung" eine erheblich gefährlichere Bedrohung als die Grüne Bewegung mit ihrem großen stillen Potenzial.

derStandard.at: Könnte sich der aktuell andauernde Machtkampf auch international auswirken?

Khosrozadeh: Ende Juni hat die israelische Zeitung "Haaretz" einen ranghohen israelischen Offizier zitiert, der von einem möglichen Angriff des Klienten Teherans, der libanesischen Hisbollah, auf Israel zum Zweck der Rettung Baschar al-Assads gesprochen hat. Eine Unruhe an der Grenze Israels würde Assad eine Verschnaufpause bescheren. Jerusalem ist zwar Meister der psychologischen Kriegsführung, doch halte ich diese Aussage nicht für abwegig. Das wäre zwar ein Spiel mit dem Feuer, welches sowohl der Hisbollah als auch den Mullahs in Teheran sehr teuer zu stehen kommen würde, doch im Falle eines nur relativen Erfolges würde dieses Ablenkungsmanöver nicht nur den Blick der Weltöffentlichkeit von Damaskus ablenken, es würde sogar Khamenei und Sepah zugutekommen.

Ich bin mir relativ sicher, dass ein Sturz des wichtigsten Verbündeten Assads, durch dessen Territorium die ganze Waffenlieferungen und sonstige finanziell-materielle Zuwendungen an die Hisbollah und Hamas laufen, den strategisch wichtigen regionalen Arm der Ayatollahs amputieren würde. Ferner lässt sich unter "externer Bedrohung" die "doppelte Herausforderung" (sowohl die Grüne Bewegung als auch Ahmadinedschads abweichende Strömung) besser ausschalten. Ich würde Sepah diesen zutrauen. Ich habe keine Zweifel daran, dass Teheran heiße Tagen unmittelbar bevorstehen. (Manuela Honsig-Erlenburg, derStandard.at, 6.7.2011)