Wien - Das jähe Ende einer durchzechten Nacht bringt die Vergnügungsroutinen einer Pariser Clique mit einem Schlag durcheinander. Ludo (Jean Dujardin) rast in der Morgendämmerung mit seinem Roller in ein Fahrzeug. Die Freunde finden sich beim gerade noch einmal mit dem Leben Davongekommenen im Krankenhaus ein. Betroffene Gesichter, Tränen, verlegene Gesten. Doch dann rückt ein anderes Problem in den Vordergrund: Man wollte doch gemeinsam in Urlaub fahren. Kann man den Verunglückten allein in Paris zurücklassen?
Der Gewissenskonflikt tritt, sobald die Gruppe im Strandhaus am Cap Ferret angekommen ist, zwar bald wieder in den Hintergrund. Dennoch verleiht er dem Miteinander der Freunde eine andere Anmutung, stellt deren Ausgelassenheit, den ein wenig hedonistischen Lebensstil und die Selbstbezüglichkeit ihres Tuns durchaus infrage. Nicht ganz so zwanglos wie erhofft vergnügt man sich am Ferienort, alsbald treten in den Beziehungen und Partnerschaften Missverständnisse und Defekte hervor, die nicht offen ausgetragen werden.
Der Originaltitel von Guillaume Canets Kleine wahre Lügen bringt diese Ausrichtung auf emotionale Verletzungen ein wenig verspielter zum Ausdruck: Les petits mouchoirs bedeutet "kleine Taschentücher". Eine assoziative Montage, die Gefühlslagen ständig kontrapunktisch durchmischt, sorgt allerdings dafür, dass man diese als Zuschauer des französischen Überraschungshits (fünf Millionen Besucher) nicht benötigt.
Max (François Cluzet), der Villenbesitzer, bringt etwa "comic relief", weil er sich nie richtig entspannen kann und auf dem Höhepunkt des Freizeitstresses mit schwerem Gerät gegen tierische Eindringlinge vorgeht. Für Spannungen sorgt überdies eine Liebeserklärung seines Freundes Vincent (Benoît Magimel), die all seine homophoben Alarmglocken schrillen lässt. Marie (Marion Cotillard) dagegen, die Unbeständige in der Runde, mag sich in Liebesangelegenheiten nicht festlegen, während zwei andere an gerade zerbrochenen Beziehungen laborieren.
Befreit spielendes Ensemble
Man sieht dem Film durchaus im positiven Sinne an, dass Canet ein ins Regiefach gewechselter Schauspieler ist. Er profitiert von einem exzellenten Ensemble, das so gelöst agiert, als befände es sich tatsächlich in einer Art Auszeit, und sich zu eindringlichen Momenten aufschwingt; weniger sicher wirkt hingegen der dramatische Aufbau des Films, der mit zweieinhalb Stunden auch ungewöhnlich lang geraten ist.
Leicht erkennbare Vorbilder für Kleine wahre Lügen sind Arbeiten wie Lawrence Kasdans The Big Chill (mit dem er auch einen eklektischen Soundtrack teilt) oder John Cassavetes' Husbands, in beiden ist es der Tod eines Freundes, der die im Leben Zurückgebliebenen aus ihren Gewohnheiten reißt und sie über ihre eigenen Versäumnisse räsonieren lässt. Solch ein Innehalten festigt sich oft einmal zum Generationenbild, in dem sich ein Publikum auch wiederzuerkennen vermag. Canets Film verlegt sich auf die Gefühlsebene seiner Clique, im Gegensatz zu politischen Fragestellungen: Er zeigt Lebensentwürfe einer bürgerlichen Bohème, die sich auf Krisen zubewegen, kann sich aber nicht dazu durchringen, sie ganz zu verwerfen. (Dominik Kamalzadeh / DER STANDARD, Printausgabe, 8.7.2011)