Das Besondere am Bachmann-Preis ist nicht das vergleichsweise hohe Preisgeld (insgesamt 56.500 Euro), sondern der Modus seiner Vergabe in Form eines so genannten „Wettlesens": Teilnehmende Autoren und Autorinnen lesen in Anwesenheit einer mehrköpfigen Jury sowie des Saal- und Livestreampublikums. Nach getaner Lesung erfolgen mündliche Bewertungen durch die Jurymitglieder, der jeweilige Autor sitzt zumeist daneben und schweigt.

So erzeugen die Veranstalter alljährlich etwas, von dem man sich nur schwer vorstellen kann dass es Ingeborg Bachmann gefallen hätte, die bekanntlich nach ihrer ersten größeren Lesung vor Nervosität in Ohnmacht fiel: die öffentliche Inszenierung von sozialen Bewertungszeremonien, die mitunter in Degradierungszeremonien übergehen.

Als Degradierungszeremonien bezeichnete der Soziologe Harold Garfinkel kommunikative Praktiken, mit deren Hilfe abweichendes Verhalten und deren Verursacher öffentlich als solche gekennzeichnet werden. Ein besonders schönes Beispiel aus der Geschichte des Bachmann-Preises bietet der Auftritts von Jörg Fauser (1984). Auf die Lesung des Fauser'schen Textes folgt die Degradierung durch den damaligen Juror M. Reich-Ranicki, der dem Lesenden bescheinigt, er „passe nicht in diesen Wettbewerb", denn sein Text sei geschrieben „ohne den geringsten literarischen Ehrgeiz", arbeite „mit Klischees" und „Versatzstücken" und habe jedenfalls „mit Kunst nichts zu tun".

Der ORF darf sich also rühmen, schon lange vor den einschlägigen Castingshow-Formaten deutscher Privatsender die voyeuristische Lust an der Beurteilung und Degradierung anderer bedient zu haben. Dass der Bachmann-Preis mehr mit  "Deutschland sucht den Superstar" als mit Bildungsfernsehen zu tun hat, weiß auch der ORF- Programmdirektor, der in seiner Begrüßungsrede den Juryvorsitzenden des Bachmann-Preises „bissig-humoristisch" mit dem Juryvorsitzenden von ‚DSDSS' in eine Reihe stellt. Das Castingshow-Prinzip ist kein Nebenprodukt, sondern der bewusst fabrizierte und jedes Jahr aufs Neue gezündete Motor dieser Veranstaltung.

Wenn das aber ohnehin allen klar ist, stellt sich eine Frage: Warum ertönen alle Jahre wieder als „kritische Worte" gewertete Äußerungen von Eröffnungsrednern des Bachmann-Preises, dass die Literatur keinesfalls als Wettbewerb funktioniere? Wie ist dieser eklatante Widerspruch zwischen der Auf- und Ausführung von Literatur als Wettkampfcasting und ihrer Beschwörung als Kunst zu erklären, in der sich, wie der diesjährige Eröffnungsredner Urs Widmer formulierte, „kein Ranking erstellen lässt"?

Die Antwort ist keinesfalls neu, verdient es aber angesichts dieses Widerspruchs in Erinnerung gerufen zu werden. Sie stammt von Pierre Bourdieu, der in seinen einschlägigen Studien zum Literaturbetrieb feststellt, dass dessen Funktionsprinzip darin besteht, die Teilnehmer des literarischen Feldes darauf zu verpflichten, sich an der im Feld herrschenden Definition von Literatur auszurichten.

Diese sieht vor „das Spiel der Kunst als Kunst zu spielen", was bedeutet, dass sich dieses Spiel „gegen die gewöhnliche Sichtweise und gegen geschäftliche und solche Ziele richtet, die (...) die Sache der Kunst auf eine Angelegenheit des Geldes" reduzieren. Mit anderen Worten: Das Spiel der Kunst/Literatur als Kunst/Literatur schreibt denjenigen, die sich als wirkliche Schriftsteller verstehen oder zu erkennen geben möchten geradezu vor, sich kritisch gegen eine Auf- und Ausführung literarischer Praktiken in Form von Castings, Wettkämpfen oder Rankings zu äußern. Das gehört gleichsam zum guten Ton unter wirklichen Schriftstellern und hat im Licht der Bourdieu'schen Thesen mit Kritik nichts zu tun.

Wirklich kritisch wird es dann, wenn sich im literarischen Feld Tätige weigern, das „Spiel der Kunst/Literatur als Kunst/Literatur" zu spielen. Auch dafür ist Jörg Fauser ein gutes Beispiel. In einem Interview mit H. Karasek gibt Fauser an, dass er sich nur ungern als Schriftsteller bezeichne. „Vielleicht als Publizist?", fragt Karasek. Daraufhin Fauser: „Ich bin Geschäftmann. Ich vertreibe Produkte, die ich herstelle und das ist ein Geschäft. Writing is my business." Dass in symbolischen (Gegen-)Entwürfen dieser Art tatsächlich kritisch-häretisches Potential steckt, wurde noch im selben Jahr in der Reaktion M. Reich-Ranickis deutlich. (Leser-Kommentar, Stefan Laube, derStandard.at, 8.7.2011)