Die Beilegung eines seit zwei Wochen dauernden Boykotts des Parlaments durch die größte Oppositionspartei wurde in der Türkei mit Erleichterung aufgenommen. Die 133 Abgeordneten der säkularen Republikanischen Volkspartei CHP leisteten am Montag im Parlament in Ankara den Amtseid, nachdem die Fraktionsführer von CHP und der Regierungspartei AKP sich auf eine gemeinsame Erklärung geeinigt hatten.

Das Papier wird als halbwegs gesichtswahrende Lösung für die Opposition verstanden, nennt aber den Grund des Boykotts nicht: die Entscheidung der türkischen Justiz, insgesamt neun Kandidaten, die bei der Parlamentswahl vor einem Monat gewählt wurden, aber in Untersuchungshaft sitzen, nicht freizulassen.

Graubereich

Die Einigung der beiden größten Parteien im Parlament ist aber insofern bedeutsam, als ein Grundproblem der türkischen Demokratie - der Graubereich der Einflussnahme zwischen Justiz und Regierung - vorerst außer Streit gestellt ist. Mit ihrem Boykott wollte die kemalistische CHP erzwingen, dass die Regierung die Richter umstimmt oder dass rasch Gesetze geändert werden, die eine Freilassung der Abgeordneten möglich machten. Dies ist der Oppositionspartei, die offensichtlich keinen wirklichen strategischen Plan hatte, nicht gelungen.

Aus dem Konflikt um den Parlamentsboykott scheint vielmehr die Idee der Gewaltenteilung zwischen Regierung, Parlament und Justiz in der Türkei gestärkt hervorgegangen zu sein. Der Boykott der 36 Abgeordneten des kurdischen Bündnisses, zu denen sechs der neun inhaftierten Parlamentarier gehören, dauert jedoch an.

Zwei andere große Strafrechtsfälle lassen eine Ausbalancierung der türkischen Justiz in der öffentlichen Wahrnehmung erkennen: Die Festnahme von mehr als 60 Funktionären und Spielern von Fußballklubs wegen angeblichen Betrugs bei Spielen wird als lange überfällige Selbstreinigung betrachtet. "Es nützt der Demokratie mehr als dem Fußball", schrieb die liberale Tageszeitung Radikal.

Ebenso wurde mit Erstaunen die Festnahme eines Exvertrauten von Premier Erdogan, des Ex-Rundfunksratschefs Zehid Akman, im Rahmen der Ermittlungen um Veruntreuungen in Millionenhöhe beim islamistischen Wohltätigkeitverein Deniz Feneri vermerkt. (Markus Bernath aus Istanbul, STANDARD-Printausgabe, 13.7.2011)