Mit der Art von krimineller Dummdreistigkeit, die ihn lange an der Spitze der italienischen Politik gehalten hat, stürzte Silvio Berlusconi sein Land und die EU in eine neue finanzielle Vertrauenskrise. Mit ein paar Sätzen über seinen Finanzminister, dessen Sparprogramm man nicht so ernst nehmen sollte, gab der italienische Premier den Hetzhunden der internationalen Finanzspekulation das Zeichen: Wir sind reif. Und die EU-Wirtschaftspolitiker müssen wieder einmal versuchen, irgendwie den Super-GAU abzuwenden.

Die gefährliche Situation, in der sich wir alle, unsere Arbeitsplätze und unser Erspartes befinden, hat zwei Komponenten: erstens die Existenz einer internationalen Finanzindustrie, die sich von der Realwirtschaft losgelöst hat.

"Die Märkte" können aber nur so agieren, weil zweitens die Politik in den westlichen Ländern die strukturellen Grundlagen dafür geschaffen hat. Da ist zum einen die Philosophie des Deregulierens (der Finanzindustrie), die von den USA ihren Ausgang genommen hat. Seit den 90er-Jahren galt als neue überwölbende politische Ökonomie, dass "die Märkte" schon wüssten, was am besten sei, bzw. die "unsichtbare Hand" alle Ressourcen richtig leiten würde. "Die Märkte", nicht der "Markt". "Die Märkte" haben sich von dem, was einmal "Marktwirtschaft" hieß und einen nie dagewesenen Aufstieg des Westens ermöglichte, weit entfernt. "Marktwirtschaft" war/ist ein politisch-ökonomisches System, das Wachstum und sozialen Ausgleich ermöglicht. Es besteht u. a. darin, Dinge und Leistungen tatsächlich zu erzeugen, die irgendjemand braucht. Die Banken hatten, bevor sie zur "Finanzindustrie" wurden, die Aufgabe, das zu finanzieren bzw. höchstens Marktschwankungen durch Termingeschäfte abzufangen, in begrenztem Umfang. Heute ist das hypertroph geworden (die Deutsche Bank besteht zu 85 Prozent aus "Investmentbanking", nicht aus den klassischen Bankgeschäften).

Aber: Die Kreditexplosion, die das mit sich brachte, wurde von der Politik begierig aufgegriffen, um ein System des Klientelismus aufzubauen, in dem wichtige Gruppen hypertroph alimentiert wurden. Sie setzten damit auf ihre Weise auch die Marktwirtschaft außer Kraft. In den USA kam eher die Oberschicht in den Genuss von (Steuer-)Privilegien. In Europa eher die Mitglieder organisierter Massenverbände. Fairerweise muss man auch dazusagen, dass sowohl in den USA wie in Europa die Politik die strukturelle Arbeitslosigkeit, hervorgerufen durch Abwanderung von einfacheren Produktionen nach Osten, mit Staatsgeld auf Kredit zu bekämpfen suchte.

Nun sitzt die westliche Welt auf einem Schuldenberg, einzelne Staaten in Europa stehen vor dem Staatsbankrott. "Die Märkte" nutzen das in bedrohlicher Weise aus. Ein Impuls wäre, "die Märkte" mit den Kräften des Marktes, der Marktwirtschaft zu disziplinieren. Das bedeutet, einige große "Player" pleitegehen zu lassen, wenn möglich kontrolliert. Wer das ohne Entgleisung des Finanzsystems schafft, sollte Präsident von Europa werden. (Hans Rauscher, DER STANDARD, Printausgabe, 13.7.2011)