Das gleiche Protein ist für die Hirnentwicklung zuständig, wie Wiener Forscher herausfanden.
Die englische Königin Elizabeth I hat, so wird zumindest erzählt, den Schriftsteller, Entdecker und Seefahrer Sir Walter Raleigh einmal zu einer Wette herausgefordert. "Wie viel wiegt der Rauch?", fragte sie in der Annahme, ihr Vertrauter werde der flüchtigen Partikel niemals habhaft werden und daher die Antwort schuldig bleiben. Doch Raleigh belehrte die Herrscherin eines Besseren, indem er sich einer indirekten Vorgehensweise bediente: Er legte eine Zigarre auf die Waage, rauchte sie und wog die verbliebene Asche ein zweites Mal. Die Differenz der beiden Beträge ergab das gesuchte Gewicht.
Die Vorgehensweise der modernen Molekularbiologie ist der Raleigh'schen Methode durchaus ähnlich. Auch sie erforscht die Funktion von Genen meist indirekt, über den Umweg ihrer Abwesenheit: Wenn man wissen will, wofür ein Gen im Körper eines Tieres verantwortlich ist, entfernt man es zunächst aus dem Erbgut – und sieht nach, ob und an welcher Stelle Fehlbildungen entstehen. "Gen-Knockout" heißt diese Methode.
Jürgen Knoblich ist ein Forscher, der sich dieser Strategie souverän zu bedienen weiß. Der Biochemiker vom Wiener Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften interessiert sich seit seiner Studienzeit für molekulare Neurobiologie und erkannte sehr früh, dass sich nicht jedes Tier gleichermaßen für dieses Forschungsgebiet eignet.
Katalog der Fliegenhirngene
"Während der Diplomarbeit habe ich mit Nervenzellen des Huhnes gearbeitet – mit zunächst mäßigem Erfolg. In meiner Frustration machte ich daher ohne das Wissen meines Betreuers einige Versuche mit der Fruchtfliege Drosophila. Und die liefen so gut und so schnell, dass ich überzeugt war: Das ist der Modellorganismus, mit dem ich in Zukunft arbeiten will." Der Fliege und den Neuronen sollte Knoblich im Fortlauf seiner Karriere treu bleiben, er ist heute einer der weltweit führenden Experten in seinem Fach.
Zu diesem Ruf beigetragen hat nicht zuletzt eine Arbeit, die Knoblich im Mai diesen Jahres im Fachblatt Cell Stem Cell (Bd. 8, S. 580) veröffentlicht hat. Darin stellte der aus Bayern stammende Forscher die Ergebnisse eines großangelegten Screenings vor, das zeigte, welche Gene die Hirnentwicklung der Fruchtfliege steuern. 900 davon sind für das reibungslose Funktionieren der neuronalen Stammzellen unerlässlich. Fehlen sie, entstehen im Fliegengehirn sichtbare – und letztlich tödliche – Schäden.
Knoblich und sein Team haben diese mithilfe langwieriger mikroskopischer Analysen kategorisiert und zu einer Art Katalog neurologischer Fehlbildungen zusammengefasst. Dieser Katalog dürfte noch Jahre nach seiner Publikation zu Folgestudien anregen. Denn obwohl das Erbgut der Fruchtfliege vor mehr als zehn Jahren sequenziert wurde, weiß man noch lange nicht, was die insgesamt 20.000 Erbfaktoren in den Organen der Fruchtfliege tun. In Bezug auf das Gehirn können Wissenschafter nun im Knoblich'schen Katalog nach unbekannten Genfunktionen stöbern.
Stammzellen-Back-up
Neuronale Stammzellen sind aufgrund ihrer Fähigkeit, sich unablässig zu teilen, eine nicht versiegende Materialquelle, die auch die Form und Größe des Gehirns bestimmt – bei Fliegen ebenso wie bei Mäusen und Menschen. "Obwohl bei der Zellteilung die DNA gleichmäßig auf beide Tochterzellen aufgeteilt wird", erklärt Knoblich im Gespräch mit dem STANDARD, "ist dieser Prozess bei Stammzellen keineswegs symmetrisch. Eine Tochterzelle wird nämlich wieder zu einer Stammzelle, während sich die andere zu einer spezialisierten Hirnzelle ausdifferenziert." Diese Asymmetrie ist seit dem Jahr 1904 bekannt, die molekularen Ursachen werden jedoch erst jetzt sichtbar.
Dass nämlich aus einer Stammzelle eine "Back-up-Copy" wird, aus der andere Neuronen entstehen, liegt an Proteinen, die sich bei der Zellteilung asymmetrisch verteilen. Knoblich hat die wichtigsten davon identifiziert und auch herausgefunden, was passiert, wenn sie nicht da sind. Dann verschiebt sich das natürliche Gleichgewicht, die Stammzellen vermehren sich unkontrolliert und bilden mitunter Tumoren. Diese Erkenntnis ist von mehr als nur akademischem Interesse, denn einer dieser Faktoren, "Numb", spielt auch beim Menschen eine wichtige Rolle. Das Protein ist, wie jüngste Forschungen gezeigt haben, auch in Stammzellen des Brustgewebes aktiv und verhindert dort die Entstehung von Krebs.
Die Übersetzung von Erkenntnissen aus der Fliegenforschung auf andere Organismen passiert in der Regel durch verschiedene Forschergruppen. Im Knoblich'schen Labor wird allerdings mehrgleisig geforscht: Nach der Verleihung des mit 1,5 Millionen Euro dotierten Wittgensteinpreises im Jahr 2009 war genug Geld vorhanden, um eine zweite Arbeitsgruppe zu gründen. Ihre Aufgabe besteht darin, die Fliegenexperimente zunächst an Mäusen und später auch an menschlichen Neuronen zu wiederholen.
Freilich geht es dabei nicht um das Nachkochen bereits erfolgter Versuche, sondern um das Gewinnen von Hypothesen: "Die Frage 'Wie funktioniert das?' ist in der experimentellen Forschung schwer zu fassen", sagt Knoblich. "Wenn man aber von einem Tier entscheidende Moleküle kennt, dann kann man präziser fragen: Funktioniert das beim Menschen genau so wie bei der Fliege?"
In Bezug auf die asymmetrische Zellteilung der Stammzellen lautet die Antwort: Ja. Der Vorgang ist trotz der nur weitschichtigen Verwandtschaft von Fliegen und Säugetieren bei beiden Organismengruppen erstaunlich ähnlich. Von der Drosophila-Forschung wird daher letztlich auch die Humanmedizin profitieren. (Robert Czepel/DER STANDARD, Printausgabe, 13.07.2011)