"Es ist natürlich wichtig, dass bei der Generationengerechtigkeit keine sehr großen Schieflagen entstehen", sagt Demograf Wolfgang Lutz (re.). Dem stimmt Seniorenchef Andreas Khol gerne zu: "Senioren sind da sehr staatstragend."

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Andreas Khol: "Manchmal genügt schon ein 'I mog net' für eine psychische Erkrankung."

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Wolfgang Lutz: "Das Lernen ist von den ersten Kindertagen an bis zum letzten Atemzug zentral."

 

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STANDARD: Herr Khol, herzliche Gratulation, Sie feiern 70. Geburtstag Haben Sie einen besonderen Wunsch an die Politik?

Khol: Ja, ich würde mich freuen, wenn die Stimmung in Österreich sich endlich der Qualität der Lage angleichen würde. Es wird unglaublich gejammert, aber zu diesen depressiven Niedergangsstimmungen besteht kein Anlass. Ich würde mir natürlich wünschen, wenn die Reformen - vor allem die Bildungsreform - schnell gehen würden, aber schnell geht in diesem Land überhaupt nichts.

STANDARD: Apropos Bildung: Den steigenden Pensionskosten stehen nur geringe Bildungsinvestitionen gegenüber. Kritiker warnen davor, dass Zinsendienst und Pensionsausgaben die Zukunft auffressen.

Lutz: Ich glaube, es kann, darf und wird nicht so weit kommen. Gerade aufgrund des internationalen Wettbewerbs, in dem sich Österreich befindet. Wir können unseren relativen Wohlstand nur dadurch erhalten, dass wir weiter in Bildung investieren. Momentan profitieren wir noch von der Vergangenheit. Wir haben noch einen gewissen technologischen, organisatorischen und bildungsmäßigen Vorsprung. Noch! Manche Staaten, wie etwa Korea, waren 1950 bettelarme Entwicklungsländer, haben uns aber inzwischen schon überholt.

STANDARD: Aber sehen Sie hier überhaupt den politischen Willen?

Lutz: Ein oberflächlich geäußerter Wille ist an vielen Stellen da, doch wenn es um die Umsetzung geht, haben wir in Österreich oft die traurige Lage eines ideologischen Grabenkampfes.

Khol: Die Fakten, von denen solche Kritiker ausgehen, sind falsch. Pensionen gegen Bildung aufzurechnen - das ist willkürlich. Warum nicht Bildung gegen Bundesbahndefizit? Eine Stunde ÖBB kostet wesentlich mehr als hundert Schulklassen - das ist genauso unsachlich. Ebenso wie den Zinsendienst mit den Pensionen zusammenzumischen. Faktum ist, dass bis zur Krise der Staatszuschuss für die Pensionen prozentuell ständig gesunken ist. Dennoch: Zur Nachhaltigkeit des Pensionssystems muss sehr viel reformiert werden, wir werden nicht länger mit 59 Jahren in Pension gehen können. Wenn es uns gelingt, das faktische Antrittsalter auf 62 Jahre zu bringen, ist das Pensionssystem abgesichert. Und zur Bildung: Wir gehören zu den OECD-Staaten, die verhältnismäßig viel in die Bildung investieren. Es ist nur schlecht investiert. Aber auch hier gilt: Die Lage ist besser als die Stimmung.

STANDARD: Aber im Universitätsbereich sind die Investitionen deutlich unter dem OECD-Schnitt.

Lutz: Es ist natürlich wichtig, dass bei der Generationengerechtigkeit keine sehr großen Schieflagen entstehen.

Khol: Bei den Universitäten halten, aus ideologischen Gründen, Leute den Stöpsel auf einer Flasche, in der es einen Gärungsprozess gibt. Und immer stärker wird da draufgepresst. Wenn da nicht endlich der Stöpsel rauskommt und eine bessere Zugangsverwaltung stattfindet, wird es die Flasche früher oder später zerreißen.

STANDARD: Gerade aber bezüglich Generationengerechtigkeit boten die Budgetverhandlungen in Loipersdorf ein bitteres Bild: Draußen protestierten die Studierenden gegen die Kürzungen, während Sie drinnen sicher sein konnten, dass es eine Erhöhung gibt, die Frage war nur, wie hoch ...

Khol: Nein, gar nicht! Wir sind hingekommen mit der Aussicht, dass es null Pensionserhöhung gibt.

STANDARD: Doch nicht im Ernst ...

Khol: Ja! Die Regierung hat ernsthaft eine Nullrunde vertreten. Uns ist es dann zwar gelungen, diese Maßnahme auf die Pensionen ab 2000 Euro zu begrenzen, aber alle mittleren und hohen Pensionen haben 2010 null Wertanpassung bekommen. Und wir haben dem auch noch zugestimmt, das ist ja auch eine interessante Facette. Ich habe noch keine Beamtengewerkschaft gesehen, die einer Nulllohnrunde zugestimmt hätte. Also, Senioren sind da sehr staatstragend.

STANDARD: Herr Lutz, für Sie ist die demografische Entwicklung ganz stark mit Bildung, Zuwanderung und Lebensqualität verquickt. Haben Sie das Gefühl, dass in der Tagespolitik das Thema Pensionen ebenso verschränkt gesehen wird?

Lutz: Nein, leider viel zu wenig. Die Politik ist in Ministerien und Sektionen aufgeteilt. Aber vor allem im längerfristigen Blick gehören diese Bereiche natürlich zusammen, weil sie einander bedingen. Diese Verbindungen muss eine aktive Sozialwissenschaft aufzeigen, wobei es vonseiten der Politik natürlich auch notwendig ist, dass sie zuhört. Bei uns habe ich einen ernsthaften Dialog zwischen Politik und Wissenschaft selten bis gar nicht erlebt.

STANDARD: Sie haben errechnet, dass sich im EU-Raum bis zum Jahr 2050 das Verhältnis von Pensionisten zu Erwerbstätigen von 1:4 auf 1:2 halbieren wird.

Lutz: Wenn die Babyboom-Generation der Sechzigerjahre in Pension geht, wird es eine massive Verschiebung geben, und das gibt natürlich Anlass zur Sorge. Außerdem nimmt die Lebenserwartung sehr schnell zu. In Österreich zwischen zwei und drei Jahre pro Jahrzehnt. Die gute Nachricht aber ist, dass wir nicht nur länger, sondern auch länger gesund leben. Das Altern ist eine durch und durch positive Entwicklung, ältere Menschen sind länger geistig aktiv und mobil.

Khol: Endlich treff ich einmal einen Wissenschafter, der das sagt. Das stimmt nämlich - noch nie waren die älteren Generationen so gesund und so produktiv. Außerdem bedingen sich Arbeit und Gesundheit. Viele Menschen werden in der Frühpension krank.

Lutz: Das Problem ist aber, dass durch die Anreizstrukturen unseres gegenwärtigen Pensionssystems die Leute geradezu in die Frühpension gedrängt werden. Das sind natürlich perverse Incentives, dass man in manchen Fällen sogar absolut weniger Pension kriegt, wenn man länger arbeitet.

STANDARD: Herr Khol, Sie greifen mittlerweile schon zu drastischen Worten, vor kurzem haben Sie gemeint, wenn es keine rasche Umsetzung von Reformen gebe, gehe es in den Abgrund. Jetzt kostet aber schon eine minimale Anhebung des faktischen Antrittsalters unglaubliche Anstrengungen, doch währenddessen verlängert sich unsere Lebenserwartung pro Jahrzehnt um 2,5 Jahre. Ist dieser Teufelskreis überhaupt aufzuhalten?

Khol: "Das ist der Fluch von unserm edeln Haus: Auf halben Wegen und zu halber Tat, mit halben Mitteln zauderhaft zu streben." Ein berühmtes Grillparzer-Zitat. Auch bei der Umsetzung gehen wir faktisch immer nur halb. Man hat natürlich Maßnahmen unternommen, das faktische Antrittsalter zu heben, aber die menschliche Natur ist unglaublich erfinderisch. Jetzt stürzt sich alles in die Invaliditätspension, als deren Hauptgrund lange ein beschädigter Bewegungsapparat galt. Jetzt aber haben wir plötzlich 50 Prozent psychische Erkrankungen, die zur Invalidität führen. Und da wird man natürlich sehr misstrauisch. Manchmal genügt schon ein "I mog net" für eine psychische Erkrankung. (Lutz lacht)

Lutz: Wenn man sich in verschiedenen europäischen Ländern die selbsteingeschätzte Gesundheitslage nach Altersgruppen ansieht, hat Österreich bei den 55- bis 60-Jährigen fast die schlechteste. Die Leute sagen, ihnen geht's einfach hundselend schlecht, aber dann in der Pension, um die 65 Jahre, geht es ihnen im europäischen Vergleich plötzlich wieder gut.

STANDARD: Wann begann die Pensionssituation in Österreich zu kippen?

Khol: Der große Einbruch kam mit den Frühpensionsmöglichkeiten, die man Mitte der Neunziger geschaffen hat, damit ist das Pensionsantrittsalter dramatisch gesunken. Und die Sünde wider den heiligen Geist war dann diese große Form der Hacklerpension, die man später zusätzlich noch weit aufgemacht hat. Das war der Einbruch! Das Antrittsalter würde steigen, gäbe es nicht die Invaliditäts- und die Hacklerpension.

STANDARD: Die vielen Frühpensionsantritte deuten darauf hin, dass viele Österreicher wenig Freude am Arbeiten haben. Woran liegt das?

Khol: Das reicht ins Metaphysische. Ich weiß es nicht.

STANDARD: Braucht es nicht überhaupt einen Mentalitätswechsel bezüglich dessen, was Alter heißt? Fühlen Sie sich alt, Herr Khol?

Khol: Sagen wir so: Ich bin älter geworden. Alter ist etwas durchaus Relatives. Es gibt heute 70-Jährige, die vom Physiologischen her früheren 50-Jährigen entsprechen. Deshalb lehne ich Schlagworte wie "Überalterung" ab. Ich finde, dass es, wegen der geringen Geburtenhäufigkeit, eher eine "Unterjüngung" gibt. Alt ist, wer nichts mehr lernen will.

Lutz: Mit gefällt das gut, dass Sie das Alter als einen Prozess darstellen. Von der Geburt an sind wir zunächst in einer Aufbauphase, und ab einem bestimmten Alter beginnen manche Fähigkeiten wieder nachzulassen. Dagegen entwickeln wir aber Kompensationsmechanismen - und oft können wir das sogar überkompensieren. Aber auch hier gilt: Wenn die Leute mehr mentale Ressourcen haben, also Bildung und Lernfähigkeit, dann können sie umso länger aktiv etwas beitragen und werden nicht zu Leistungsempfängern. Das ist sozusagen der Lebensbogen: Das Lernen ist von den ersten Kindertagen an bis zum letzten Atemzug sicher ganz zentral. (Tanja Traxler, Dominik Zechner, STANDARD-Printausgabe, 14.7.2011)