Torsten Hinrichs: "Wir haben Griechenland schon 2004 begonnen abzustufen, die Anleger haben damals kaum reagiert und den Griechen weiter günstige Kredite gewährt."

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"Wir sind nicht Ramsch", Protest in Athen gegen Ratingriesen.

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EU-Politiker wettern gegen die Übermacht der US-Ratingagenturen. Aber was sagen die Geprügelten? Standard-&-Poor's-Manager Torsten Hinrichs über die Griechenlandkrise und überzogene Kritik. Mit ihm sprach András Szigetvari

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STANDARD: Wie würden Sie einer Schulklasse beschreiben, was eine Ratingagentur so macht?

Hinrichs: Vereinfacht ausgedrückt ist es die Rolle einer Ratingagentur auszugleichen, dass bestimmte Marktteilnehmer mehr wissen als andere. Der Emittent eines Finanzpapiers hat mehr Infos als der Käufer. Das wollen wir ausgleichen, indem wir die Bonität von Unternehmen und Staaten bewerten. Das Ganze drücken wir in Buchstabenkombinationen aus.

STANDARD: Ihre Buchstabenkombinationen werden in Europa heftig kritisiert. Als amerikanische Agentur sollen Sie die USA bevorzugen.

Hinrichs: Wir wenden unsere Ratingkriterien global gleichmäßig an. Jeder kann unsere Kriterien auf unserer Webseite nachlesen. In Bezug auf die USA möchte ich daran erinnern, dass wir den Ausblick für das Land auf negativ gesenkt haben. Wir haben darauf hingewiesen, dass die Schuldensituation der Vereinigten Staaten bedenklich wird. Wir haben vor zwei Wochen angedeutet, dass, sollte es im Kongress nicht zu einer Einigung über die Anhebung der Schuldengrenze kommen, wir US-Staatsanleihen mit "D" bewerten würden. Wir haben freilich dazugesagt, dass wir nicht der Ansicht sind, dass das passieren müsste.

STANDARD: Das Defizit in den USA ist fast so hoch wie jenes von Griechenland, die Verschuldung liegt bei 100 Prozent der Wirtschaftsleistung. Und dennoch: Den USA geben Sie ein Triple-A-Rating, Griechenland ist auf Ramschstatus.

Hinrichs: Reduzieren Sie Ratings nicht auf das Vergleichen von Kennzahlen. Ich lese immer wieder in der Presse von Vergleichen der Defizitzahlen und des Schuldenstandes. Das sind tatsächlich vergleichbare Werte. Aber es gibt auch andere Faktoren, die wichtig sind. Ein Beispiel: Der Status des US-Dollars als Leit- und Reservewährung der Welt. Das ist ein Riesenvorteil der US-Volkswirtschaft.

STANDARD: Die Finanzminister wollten eine freiwillige Beteiligung der Banken an der Hellashilfe. Diese müsste aber so gestaltet werden, dass die Agenturen nicht von einer Staatspleite sprechen. Ein immenser Einfluss.

Hinrichs: Es liegt in den Händen der Akteure, Ratings als Benchmarks heranzuziehen. Wir drängen unsere Ratings niemandem auf. Wir haben nie danach getrachtet, eine Referenzgröße in den europäischen Rettungsbemühungen zu sein.

STANDARD: Sie wollten eine freiwillige Beteiligung der Banken dennoch als Default werten. Warum?

Hinrichs: Es ist das Grundverständnis an den Kapitalmärkten, Verbindlichkeiten pünktlich und vollständig zurückzuzahlen. Dieses Zahlungsversprechen würde im Falle des französischen Modells zur Bankenbeteiligung nicht erfüllt werden. Das Modell sieht vor, fällig werdende griechische Anleihen in Papiere mit einer Laufzeit von weiteren dreißig Jahren zu tauschen. Aus der Sicht des Investors ist das simpel: Athen hält das Zahlungsversprechen nicht ein. Nach unseren Kriterien wäre das ein Default.

STANDARD: Ratingagenturen spielen eine zentrale Rolle in Europa: Die Europäischen Zentralbank (EZB) akzeptiert zum Beispiel nur Papiere, die von ihnen ein Gütesiegel erhalten haben. Freut Sie diese Machtposition?

Hinrichs: Wir haben schon ganz früh gesagt, dass wir es nicht für angemessen halten Ratings als Bezugspunkte für staatliche Regulierung und Gesetzeswerke zu nehmen. Das trifft auch auf die Anlagekriterien der EZB zu. Es sollte jedem Marktteilnehmer frei stehen, Ratings als zusätzliche Meinung in einen Entscheidungsprozess mit einzubeziehen. Es sollte dazu aber keinerlei gesetzliche Vorschriften geben.

STANDARD: Das heißt, die EZB nimmt sie zu wichtig?

Hinrichs: Die EZB sollte sich eine eigene Meinung bilden. So wie auch Banken, Versicherungen und alle anderen Investoren.

STANDARD: Sind Ratings nicht eine Selffulfilling Prophecy: Sie warnen vor der hohen Verschuldung Griechenlands, prompt steigt für das Land die Zinsbelastung.

Hinrichs: Die Marktteilnehmer sind nicht so naiv. Selbst wenn wir Griechenland ein Triple "A" geben würden, hätten Investoren ihre eigene Einschätzung, und die Zinsen wären ähnlich hoch wie jetzt auch. Wir haben Griechenland schon 2004 begonnen abzustufen, die Anleger haben damals kaum reagiert und den Griechen weiter günstige Kredite gewährt. Seit Ausbruch der Krise haben die Marktteilnehmer aber eine viel negativere Sicht entwickelt als wir. Zinskosten für Athen sind überproportional angewachsen und auf einen viel höheren Stand geklettert, als das unsere Ratings impliziert hätten.

STANDARD: Sind Ratings Fakten oder Meinungen?

Hinrichs: Meinungen. Zum Teil beruhen sie auf der quantitativen Analyse über wirtschaftliche Kennzahlen, zum Teil auf den bewertenden Meinungen und Interpretationen unserer Analysten.

STANDARD: Aber wenn es um Fakten geht: Wo kommt Meinung hinein?

Hinrichs: Über Erfahrung. Wir haben unsere Analysten so gut aufgestellt, dass sie Fachleute sind. Es gibt Analysten, die nur Länder bewerten, andere nur Chemie- oder Autokonzerne. Diese Leute haben daher eine sehr fundierte Marktkenntnis und können Quervergleiche ziehen.

STANDARD: Sie sagen Erfahrung. Lehman Brothers erhielt von Ihnen noch Tage vor der Pleite Bestnoten.

Hinrichs: Da wird vieles durcheinandergebracht. Lehman hatte nie ein Höchstrating. Bei uns hatten sie ein Rating im "A"-Bereich, das nur die sechst- oder siebent- höchste Stufe darstellt. Zweitens wird vergessen, dass Ratings Rangreihungen sind. Das heißt jedes Rating, auch ein "A", hat eine bestimmte Ausfallswahrscheinlichkeit, die sich aus einer historischen Beobachtung ergibt.

STANDARD: Aber wenn Sie Lehman vor der Pleite mit "A" bewerteten, ist doch etwas schiefgelaufen.

Hinrichs: Das ist so nicht richtig. Aus der historische Erfahrung ergibt sich, dass auch ein Unternehmen oder ein Staat mit einem "A"-Rating zahlungsunfähig werden kann. Selbst bei einem Dreifach-"A" darf man nicht davon ausgehen, dass nichts passieren kann.

STANDARD: Noch einmal zum Meinungselement: Wenn Sie von subjektiven Elementen sprechen, ist es nicht klar, dass es dann auch zu Verzerrungen, zum Beispiel zwischen Bewertung der USA und Europas kommt.

Hinrichs: Wir haben in Europa über 300 Analysten ansässig, allein in Frankfurt über 100 Mitarbeiter. Wir haben Büros in Spanien, Italien, Frankreich, Schweden, Russland und Großbritannien. Die Entscheidungen für europäische Kunden werden überwiegend in Europa getroffen. Sie werden in Europa vorbereitet und die Komitees, die entscheiden, sind überwiegend mit Europäern besetzt. Das heißt, die Möglichkeit Amerika positiver zu bewerten ist absolut unrealistisch, weil europäische Analysten die Entscheidungen herbeiführen.

STANDARD: Haben Sie in der Schuldenkrise etwas falsch gemacht?

Hinrichs: Standard & Poor's tut gut daran, Unabhängigkeit zu wahren und als objektiver Bewerter seine Meinung zu äußern. Was wir vermehrt tun, ist größere Transparenz zu schaffen, um unser Handeln prognostizierbar zu machen.

STANDARD: Europa will eine eigene EU-Ratingagentur schaffen ...

Hinrichs: Das befürworten wir. Meinungsvielfalt sollte Investitionsentscheidungen verbessern. Klar ist aber auch, dass sich jede neue Agentur erst einmal einen Track-Rekord aufbauen müsste, eine Historie, die Investoren überzeugt, dass ihre Ratings unabhängig und zutreffend sind. Standard & Poor's existiert in dieser Form seit 150 Jahren, und wir machen Ratings in der jetzigen Form seit den 1960er-Jahren. Das ist also sicher nichts, was man in zwei, drei Jahren aufbauen kann.

STANDARD: Eine andere Idee der EU-Kommission war, Ratingagenturen zu zerschlagen.

Hinrichs: Das habe ich verwundert zur Kenntnis genommen. Parallel dazu gab es ja auch den Vorschlag, Ratings für Staaten, die sich in einer Restrukturierung befinden, völlig zu verbieten. Damit würde aber Transparenz verlorengehen. Zudem würde eine zusätzliche Meinung fehlen, was Märkte noch nervöser macht. Zur Beruhigung würde das alles nicht beitragen.  (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.7.2011)