Gastauftritt im Zelluloid-Medium: Marshall McLuhan (ganz rechts) erklärt Woody Allen (Mitte) und einem New Yorker Kinobesucher in "Annie Hall"(1977), wie seine Thesen wirklich gemeint sind.

Foto: Screenshot aus "Annie Hall"

Sie können diesen Artikel zu Hause auf dem Bildschirm ihres Computers lesen, unterwegs in der U-Bahn auf dem Tablet oder im Park auf Zeitungspapier. Doch welchen Einfluss hat bei all diesen verschiedenen Möglichkeiten das Medium? Diese Frage hat den kanadischen Medientheoretiker Marshall McLuhan, der am 21. Juli einhundert Jahre alt geworden wäre, ein Leben lang beschäftigt.

McLuhan starb in der Silvesternacht des Jahres 1980. Ende der 50er-Jahre begann er, bald als Leiter des Center for Culture and Technology der University of Toronto, sich mit Medien und ihren Auswirkungen auf die Kultur zu beschäftigen. Mit seinen zahlreichen Büchern gab er Werkzeuge an die Hand, Medien als Medien und nicht als Transportmittel für Inhalte zu verstehen. Dadurch veränderte er unser Verständnis von Kultur grundlegend.

Die Auswirkungen eines Mediums liegen, so McLuhan, nicht in dem, was es transportiert und worauf der Blick traditionellerweise gerichtet war: auf das, was gesagt oder gezeigt wird. Er stellt das Verhältnis auf den Kopf: Das Entscheidende ist der Einfluss des Mediums auf das, was es überträgt. Sein wohl berühmtester Satz The Medium is the Message lässt sich auf Englisch ganz wunderbar variieren: Das Medium ist als Massage das, was unsere Sinne anregt, oder auch das Zeitalter der Massen oder auch das Zeitalter des Chaos oder vielleicht sogar das Zeitalter der kirchlichen Messe. Doch wie greift das Medium in das ein, was es überträgt, und welche Auswirkungen hat es auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Wahrnehmung oder Psyche des Menschen?

McLuhan stellt noch heute Modelle bereit, die auf aktuelle Entwicklungen von Facebook bis zur Energiewende angewandt werden können und helfen, uns selbst zu verstehen. Vielleicht sind es aber auch seine Träume und Wünsche, die tieferen Einblick in seine Zeit versprechen - und damit auch in unsere Zeit. McLuhans Schreibweise ist erratisch und rhetorisch durchdacht, vielschichtig, aber auch oberflächlich, eingängig und komplex. Seine Bücher entwerfen kaleidoskopartige Landschaften, in denen theoretische Überlegungen mit Dialogen aus Fernsehsendungen oder die Technik des Radios mit Shakespeares Sonetten zusammentreffen.

Ein Kritiker sagte einmal, ein gutes Buch enthalte 15 Prozent neue Erkenntnisse. McLuhans Bücher hingegen lägen bei 75 Prozent und seien deswegen unlesbar. Das trifft den Eindruck des Lesers und macht zugleich die Faszination, aber auch die ständig drohende Überforderung deutlich. McLuhans Phrasen können so abgedroschen wie inspirierend, als Sackgassen wie als Explorationen im Unbekannten verstanden werden - sie zwingen dazu, Position zu beziehen.

McLuhan war vor allem jemand, der unterschiedlichste Diskurse zusammenführte und balancierte. Deshalb ist es angebracht, seine Thesen zu seinem 100. Geburtstag weniger auf ihre Gültigkeit und Angemessenheit hin zu prüfen, sondern sie als Symptome zu lesen - als Ausdruck seiner Zeit und der Ideen und Träume, die er zusammenführt. Seine größte Stärke war seismografisch: Wie wenige andere Denker des 20. Jahrhunderts hatte er ein Gespür für die zahlreichen großen Beben und kleinen Spannungen, die den Boden vibrieren ließen, auf dem er stand. Ob die Krise der Physik, die in den 60er-Jahren noch tobte, die Einführung der computergestützten Datenverarbeitung, die Tendenzen der Kunst zwischen Pop-Art und Aktionismus oder die Konfrontationen des Kalten Kriegs: McLuhan gelang es, all dies zu verschmelzen.

In den 60er-Jahren wurde er mit Figuren wie dem Architekten Buckminster Fuller, der selbst gerade ein Revival erlebt, oder dem Drogenguru Timothy Leary in einem Atemzug genannt und zählte zu den wichtigsten 'public intellectuals'. Geschicktes Selbstmarketing und eine geradezu kompromisslose Stilisierung gingen Hand in Hand. Sie pendelten zwischen Genialität, Verschrobenheit und gefährlichen Vereinfachungen.

Doch die Schattenseiten des Ruhmes ließen nicht auf sich warten. Sein Aufstieg auf der Leiter des Erfolgs ging einher mit einem Imageverlust als Wissenschafter. So sah sich McLuhan sein Leben lang dem Vorwurf ausgesetzt, seine Thesen seinen unsystematisch, wirr und unwissenschaftlich. Jean Améry schrieb 1968 in einer Rezension im Spiegel gar, McLuhan liefere allenfalls "Scheinantworten, die von einem Scheindenken produziert worden sind" - zu unpolitisch erschien McLuhan diesen wilden Zeiten. Ungeachtet dessen war Understanding Media eines der auflagenstärksten Sachbücher der 60er-Jahre und erlebt derzeit einen erneuten Boom.

Nun wird 2011 mit zahlreichen Konferenzen und Ausstellungen weltweit das McLuhan-Centennial begangen. Die Begeisterung für McLuhan kennt drei Phasen: eine erste Mitte der 60er-Jahre, als seine wichtigsten Bücher The Gutenberg Galaxy und Understanding Media erscheinen, eine zweite, in der er in den 90ern zum Propheten des Internet stilisiert wird, und aus aktuellem Anlass eine dritte. In McLuhans Karriere war kaum etwas dem Zufall überlassen. Eine Werbeagentur in San Francisco verschaffte ihm in den 60er-Jahren die Möglichkeit, in den Medien, die er beschrieb, Stellung zu beziehen. McLuhan reflektierte häufig, geschickt und geradezu in seinem Element, im Fernsehen über das Fernsehen oder im Radio über das Radio, um aufzuklären, welche Effekte und welche Ursachen sie hervorbringen. Dabei leitete ihn die Prämisse, dass ein fester Standpunkt im Zeitalter der Elektrizität verlorene Liebesmüh sei. Wenn wir durch Radio oder Fernsehen überall sind, weil jedes Empfangsgerät uns gleichzeitig das Gleiche überträgt, leben wir in einer perspektivlosen Welt.

McLuhan im Fernsehen oder im Film ist, so folgt aus seinen eigenen Thesen, nicht McLuhan, sondern Fernsehen oder Film, eine Beobachtung, die sich heute noch beim alltäglichen Blick ins Fernsehen oder ins Internet machen lässt. So kann McLuhan selbst als Produkt der Medienwelt gelten, der er einen theoretischen Rahmen zu geben versuchte.

Die Elektrizität hat McLuhan zum Motor aller Veränderungen des 20. Jahrhunderts erkoren. Den Computer konnte er nur am Horizont erahnen. Sein Leitmedium war das Fernsehen, das seit dem Start des russischen Satelliten Sputnik 1957 weltweit zu empfangen war. Mit den elektrischen Medien vom Radio übers Fernsehen bis hin zur Glühbirne oder zu Automationsprozessen sei mit der Elektrizität eine Kraft der Gleichzeitigkeit am Werk.

Elektrizität beschrieb er als ein instantanes, unendlich schnelles Medium, durch das alle Orte der Welt gleichzeitig miteinander verbunden werden können. Um auf das Beispiel vom Anfang zurückzukommen: auf den Zeitungsseiten, die zwar aufeinander folgen, herrscht eine Gleichzeitigkeit von Perspektiven, Bildern und Buchstaben. In der Online-Version kann der Artikel hingegen kommentiert und kritisiert werden - und dadurch wird daraus ein ganz anderer Artikel. Dass diese elektrische Gleichzeitigkeit streng genommen eine aufwändig produzierte 'Rechtzeitigkeit' ist, ging im Traum einer durch Gleichzeitigkeit verbundenen Gesellschaft unter.

Das "global village" McLuhans, hat hier seinen Ursprung. Wir leben, meint er, wie Bewohner eines Dorfes rund um den Marktplatz des Fernsehens und die Stammestrommel des Radios - ein Bild, das auch heute kaum etwas von seiner Eindrücklichkeit verloren hat, wenn wir im Internet auf dem Marktplatz der Begehrlichkeiten miteinander umgehen. Und doch hat das globale Dorf seine Schattenseiten, die McLuhan hervorzuheben vergaß. Durch die Gleichzeitigkeit der Elektrizität verliert das Dorf sein Außen. Kein Ort der Welt kann sich entziehen. McLuhans globales Dorf ist eine fragwürdige politische Utopie, in der es zwar Raum gibt für Fremde und für Streit, aber es vergisst, dass es auch eine Welt außerhalb des Dorfes gibt. Ganz in diesem Sinne können die 60er-Jahre als Zeitalter einer weltweiten Einheit gelten - jedenfalls des Traums von ihr.

Trotz aller Kritik können Bücher wie Die magischen Kanäle, so der deutsche Titel von Understanding Media, auch heute noch ihr ganzes Potenzial entfalten. Man sollte sie nur nicht spitzfindig daraufhin prüfen, welche Prognosen richtig waren und welche Annahmen sich als falsch herausgestellt haben. Man sollte die Werke McLuhans als Symptome einer Zeit des Aufbruchs lesen. Dann kann über die Versprechen nachgedacht werden, die sie gaben: die Welt zu verstehen und zu erklären, in der wir heute leben. The medium is the message. (Florian Sprenger/DER STANDARD, Printausgabe, 16./17. 7. 2011)