Bild nicht mehr verfügbar.

In Sendai wurde am Wochenende das erste Straßenfest des Sommers derart von Menschen überlaufen, dass die Auftritte der meisten Tanzgruppen abgesagt werden musste.

Foto: EPA/TOMOYUKI KAYA

Ergriffen steht Keiko Fukano an der Promenade von Matsushima. Um sie herum wimmelt es von Touristen, als ob es an Japans Nordostküste nie einen Tsunami gegeben hätte. "Diesen Ort haben die Götter geschützt", seufzt sie und genießt ungläubig den Blick auf die Inselwelt, die als eine der drei schönsten Küstenlandschaften Japans gilt.

Matsushima wirkt wie ein Wunder. Auf hunderten Kilometern Länge hat am 11. März der Mega-Tsunami Küstendörfer und -städte ausgelöscht. Aber die Promenade der Bucht von Matsushima mit ihren Mäuerchen und Kieferchen, den Holzbrückchen und Schreinchen ist nahezu unversehrt geblieben. Und die Ausflugsdampfer tuckern wieder voll beladen mit Touristen durch das Wirrwarr der mit Kiefern begrünten Inseln, denen Matsushima seinen Ruf wie sein Überleben zu verdanken hat.

Erstes Straßenfest in Sendai

Matsushima ist nicht das einzige Sinnbild dafür, dass sich in Japan nach Schock und Trauer die monatelang gezügelte Reise- und Feierlaune mit großer Macht wieder Bahn brechen. Ein anderes liegt 25 Kilometer südwestlich vom Inselidyll: die Millionenmetropole Sendai. Dort wurde am Wochenende das erste Straßenfest des Sommers derart von Menschen überlaufen, dass die Auftritte der meisten Tanzgruppen abgesagt werden musste.

Verantwortlich dafür ist Bürgermeisterin Emiko Okuyama. Sie hatte für das Wochenende Vertreter der sechs beliebtesten uralten Matsuri in der Krisenregion nach Sendai eingeladen. Matsuri heißen die Feste, deren lebhafteste Varianten im Sommer gefeiert werden. Und Okuyama wollte nun der Welt mit ihrem Mega-Matsuri zeigen, dass die Region noch lebt und eine Reise lohnt.

Fast dreimal so viel Menschen wie erwartet

Der Erfolg war überwältigend. Statt der erwarteten 50.000 drängten am Samstag 133.000 Menschen zur Festparade. Die Tänzergruppen kamen nicht mehr durch. Der Verkehr in der Innenstadt brach teilweise zusammen. Eine junge Frau mit einem tragbaren Ventilator in der einen Hand und ihrer fünfjährigen Tochter an der anderen sagt überrascht: "Das sind ja mehr als bei unserem Tanabata-Matsuri". Das Tanabata-Matsuri ist Sendais Beitrag zur Feierkultur und startet am 5. August mit einem Riesenfeuerwerk.

Eine alte Dame in einer Seitenstraße erklärt den Ansturm: "Dieses Jahr ist besonders!" Viele Menschen in der Krisenregion hätten gezweifelt, ob sie jemals wieder feiern würden. Nun ertanzen und ertrommeln sie sich Lebenswillen und Hoffnung zurück.

Bier und Bonbons

Aus ganz Japan sind Besucher gekommen, die einen zum Anfeuern, die anderen zur Selbstbestätigung. Die Stimmung ist dementsprechend gut, trotz Gedränges. "Habt ihr alle Bier?", rufen zwei Moderatoren auf einem Nebenplatz in die Menge. Ein Ja schallt zurück. Dann springt spontan ein Mann auf die Bühne und übergibt dem Duo eine Tüte Bonbons. "Aus Miyazaki", schreit er. Applaus. Miyazaki liegt 1100 Kilometer Luftlinie von Sendai entfernt.

Am Sonntag konnten dann doch alle Gruppen tanzen. Und Japan hat sich ein weiteres Stück Normalität zurückerobert. (Martin Kölling aus Sendai, DER STANDARD; Printausgabe, 18.7.2011)