Fuat Sanaç in einer Moschee in der Wiener Goldschlagstraße: "Seit meiner Jugend weiß ich, dass ich mit Politik nichts zu tun haben will"

Foto: STANDARD/Newald

Seit Juni steht Fuat Sanac an der Spitze der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ). Im Interview erklärt der türkischstämmige Familienvater, warum Frauen nicht Imame sein können und weshalb er zu antisemitischen Aussagen keine Stellung bezieht.

derStandard.at: Herr Sanac, wie würden Sie sich beschreiben?

Fuat Sanaç: Die Menschen mögen mich. Weil ich die Menschen mag. Wenn Sie alle Menschen lieben, dann haben Sie kein Problem mehr. Manchmal gibt es Ausnahmen – wenn zum Beispiel ein Journalist über mich etwas Unwahres schreibt. Dann denke ich: Vielleicht habe ich über ihn schlecht gedacht, und die Harmonie ist deswegen gebrochen.

derStandard.at: Können Sie ein Beispiel nennen?

Sanaç: Nein, sonst fühlt sich jemand gekränkt.

derStandard.at: Der Chef der katholischen Kirche in Österreich ist ein Bischof, der Chef der jüdischen Gemeinde ein Rabbiner. Warum ist der Chef der Muslime kein Imam?

Sanaç: In der Islamischen Tradition gab es das nie, dass ein Imam auch ein Führer ist. Hier geht es nicht um Theologie, sondern um die Führung der Gemeinde. Einer muss das Oberhaupt sein. Und ich wurde mit absoluter Mehrheit von den Muslimen in Österreich gewählt.

derStandard.at: Wie kommen Sie auf eine absolute Mehrheit? In Österreich leben circa 500.000 Muslime, aber an der Wahl beteiligt haben sich nur 20.400.

Sanaç: Schauen Sie: Wir Muslime haben viele Kinder. Von den 500.000 Muslimen sind mindestens 300.000 Kinder. Und wahlberechtigt ist man nur dann, wenn man freiwillig einen Beitrag zahlt. Das haben 27.000 Menschen getan.

derStandard.at: Warum so wenige?

Sanaç: Von manchen Familien hat sich nur eine Person angemeldet, die für die ganze Familie gestimmt hat. Die haben gesagt: Warum sollen alle bezahlen? Einer reicht. Und wenn ein Verein 2000 Leute hat, dann sagen sie – gut, wir schicken 100 Leute, die symbolisch für alle anderen wählen.

derStandard.at: Genau das sorgt für Kritik. Es heißt, die neu gewählten Gremien seien zu wenig repräsentativ.

Sanaç: Diejenigen, die das behaupten, die haben nicht einmal hundert Mitglieder – das ist die Wahrheit.

derStandard.at: In der katholischen Kirche fordern viele das Priesteramt für Frauen. Könnte es sein, dass auch die österreichischen Muslimas einmal aufbegehren und sagen, wir wollen auch für Männer vorbeten dürfen?

Sanaç: Wozu? Wem nutzt das? Sollen sie sich vor den Männern herunterbeugen? Ich glaube nicht, dass eine religiöse Frau das machen will.

derStandard.at: Was macht Sie so sicher?

Sanaç: Es ist unangenehm für eine muslimische Frau, ich weiß das, zu hundert Prozent. Ich habe auch Schwester, Mutter, Schwägerin. Keine Frau will das. Wenn sie das nicht machen, was verlieren sie? Es geht hier nicht ums Amt, sondern um das Gebet, und das Gebet erfordert Konzentration. Außerdem: Jede Religion hat ihre Vorschriften und das ist verboten.

derStandard.at: Sie sind türkischer Herkunft. Was ist Ihr Gefühl: Werden die AustrotürkInnen eher religiöser, oder zunehmend distanziert von der Religion?

Sanaç: Das weiß ich nicht. Woher soll ich das wissen? Ob jemand gläubig oder nicht gläubig ist – ich sehe nur das Äußere: Er kann den ganzen Monat fasten, aber wenn er hinter mir Lügen erzählt, hilft mir seine Frömmigkeit nicht. Wichtig ist seine Korrektheit.

derStandard.at: Sie vertreten die Islamische Glaubensgemeinschaft. Ist es Ihnen völlig gleichgültig, ob die Zahl der Religiösen zu- oder abnimmt?

Sanaç: Mir ist lieber, wenn jeder Mensch Grundsätze hat. Wenn jemand sagt, er ist katholisch, dann weiß ich, mit wem ich es zu tun habe. Wenn jemand überhaupt nichts hat, ist er ein Schaf ohne Schafhirt.

derStandard.at: Wer sind denn diese Menschen ohne Hirt? AtheistInnen?

Sanaç: Es gibt auch Atheisten, die Grundsätze haben. Er kann auch an einen Stein glauben. Niemand kann sagen, er hat mit Religion nichts zu tun. Auch er bleibt am Sonntag zu Hause und geht nicht arbeiten. Und warum? Wegen der Religion. Der Ruhetag kommt von der Religion.

derStandard.at: Kann man ohne Religion glücklich sein?

Sanaç: Das hat es in der Menschheit nie gegeben, dass die Leute ohne Religion glücklich waren. 70 Jahre Kommunismus – waren die Menschen da glücklich?

derStandard.at: Ohne Religion zu leben, heißt nicht, unter Zwang ohne Religion zu leben. Viele Menschen leben unter Zwang mit Religion.

Sanaç: Ja, auch das ist falsch im Islam. Ein Muslim ist der, der sich freiwillig Gott unterworfen hat, der freiwillig betet und fastet. Sonst ist es ungültig. Deswegen spreche ich immer von Freiheit, Freiheit, Freiheit. Jeder muss für sich entscheiden.

derStandard.at: Sie haben es als ein religiöses Gebot bezeichnet, dass Mädchen ab der Pubertät nicht mehr mit Buben schwimmen gehen. Aber daraus können sich ganz konkrete Probleme ergeben: Was ist, wenn der ganze Freundeskreis ins Freibad geht, aber Aylin oder Yasmin darf nicht mitgehen?

Sanaç: Das ist eine private Entscheidung. Das muss man respektieren. In jeder Religion gibt es Gebote und Verbote, die können Sie nicht verändern.

derStandard.at: Was ist, wenn eine gläubige 16-Jährige die Gebote einhalten will, aber dennoch darunter leidet, weil es sie von ihren Freundinnen isoliert?

Sanaç: Das Problem gibt es nicht. Das ist total unrealistisch. Außerdem: Es geht nicht ums Schwimmen, sondern ums Sich-Entblößen. Das ist die Vorschrift. Wenn das Mädchen sagt, es zieht einen Ganzkörperanzug an, dann geht es. Und das sollen die Freunde akzeptieren, wenn sie wirklich wahre Freunde sind.

derStandard.at: Andere sagen, es gebe unterschiedliche Auslegungen des Koran. Wenn ich Ihnen zuhöre, klingt es so, als gebe es nur eine einzige.

Sanaç: Es gibt Dinge, die man nicht auslegen kann. Das ist wie beim Schweinefleisch. Da gibt es keine Auslegung, das ist Vorschrift. Du darfst nicht lügen – auch eine Vorschrift. Aber es gibt Ausnahmen. Wenn ich in Lebensgefahr bin, darf ich sogar Schweinefleisch essen.

derStandard.at: Was unterscheidet Sie von Ihrem Vorgänger Anas Shakfeh?

Sanaç: Ich bin ein bisschen größer als er, und er ist ein bisschen älter, er kommt aus Syrien, ich aus der Türkei. Er hat zwei Kinder, ich habe vier.

derStandard.at: Sonst unterscheidet Sie gar nichts?

Sanaç: Wie Sie gesehen haben, bin ich härter, direkter, offener. Er war geduldiger. Er war sehr ruhig. Ich bin nicht so ruhig. Was ich auf dem Herzen habe, sage ich. Ich bin kein Diplomat.

derStandard.at: Sie sagen, Sie sind ein offener, ehrlicher Mensch. Andererseits haben Sie für HC Strache sehr freundliche Worte gefunden. Er sei ein guter Mensch, der nichts gegen den Islam habe, sagten Sie einmal. Ärgern Sie sich gar nicht über seine islamfeindlichen Kampagnen?

Sanaç: Ich glaube nicht, dass er ein schlechter Mensch ist. Er ist ein guter Mensch, weil Gott alle Menschen gut erschaffen hat. Ich habe aber auch gesagt, dass uns seine Plakate sehr traurig gemacht haben. Und einmal habe ich Strache auf Okto TV gehört, und da hat er gesagt, dass er nicht gegen den Islam ist. Ich nehme das wörtlich.

derStandard.at: Wie passen seine Plakate zu diesen Äußerungen?

Sanaç: Ich hoffe, dass bei der nächsten Wahl so etwas nicht mehr passiert. Diese Partei ist nicht mehr so klein wie früher, wenn sie aus der Opposition heraus will, muss sie Verantwortung übernehmen und das ganze Volk umarmen.

derStandard.at: Sie bekennen sich zur Milli Görüş-Bewegung. Von deren Gründer Necmettin Erbakan stammt folgendes Zitat: "Betrachten wir die Weltkarte, dann sehen wir ungefähr 200 Länder in [verschiedenen] Farben und wir denken, es gibt viele Rassen, Religionen und Nationen. Tatsache ist, dass in den [letzten] 300 Jahren, all diese [200 Nationen] von einem Zentrum kontrolliert wurden. Dieses Zentrum ist der rassistische, imperialistische Zionismus." Stimmen Sie dem zu?

Sanaç: Das ist nicht meine Aussage, das hat mit mir nichts zu tun. Ich bin davon überzeugt, dass Milli Görüş in der Türkei für Demokratie gekämpft hat. Und auch in Europa leisten Milli Görüş große Arbeit, auch im Demokratiebereich.

derStandard.at: Sollte sich Milli Görüş von Erbakan distanzieren? Im selben Interview hat er Juden und Jüdinnen als "Bakterien" bezeichnet.

Sanaç: Ich glaube das nicht. Das sind politische Äußerungen. Außerdem sind sie von seinen Gegnern erfunden worden.

derStandard.at: Und Milli Görüş ist nicht nur eine religiöse, sondern auch eine politische Bewegung. Und diese Bewegung unterstützen Sie.

Sanaç: Schauen Sie: Im 15. Bezirk in Wien gibt es Milli Görüş. Ich weiß, welche Arbeit sie dort leisten, ich sehe dort Menschen, die anderen helfen. Sie können tausend Zitate von Erbakan zitieren, was habe ich damit zu tun? Ich habe mich nie darum gekümmert, weil ich mich nie mit Politik beschäftigt habe. Seit meiner Jugendzeit weiß ich, dass ich mit Politik nichts zu tun haben will.

derStandard.at: Heute haben Sie sehr wohl mit Politik zu tun. Sie treffen den Bundeskanzler, die Innenministerin. Wie geht es Ihnen damit?

Sanaç: Das stört mich überhaupt nicht. Über unsere Probleme zu sprechen hat doch mit Politik nichts zu tun. Ich sage: "Frau Ministerin, wir brauchen das da." Sie sagt: Nein, dieses kriegen Sie nicht, Sie kriegen das." Und dann sagen wir: "Gut, dann machen wir es ganz anders." Wenn Sie das Politik nennen, dann okay. (Maria Sterkl, derStandard.at, 19.7.2011)