Hundert Tage im Amt: Sebastian Kurz

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"Rassismus wird überhaupt nicht thematisiert": Clara Akinyosoye

Zu viele Phrasen, zu wenig Inhalt, zu viel Rede vom Deutschlernen: Das ist die Bilanz der MigrantInnen-VertreterInnen zu Sebastian Kurz‘ ersten hundert Tagen im Amt.

Am 21. April wurde Sebastian Kurz als erster Integrationsstaatssekretär der Zweiten Republik angelobt. Fast hundert Tage sind ins Land gezogen, ungefähr gleich viele Interviews mit dem jüngsten Regierungsmitglied sind abgedruckt und ausgestrahlt worden – doch was davon hängen blieb, ist nicht allzu viel. Zumindest ist das der Tenor bei den Migrantenvereinen.

"Das ist ein ÖVP-Problem"

"Schöne Fotos. Mehr fällt mir zu ihm nicht ein", ätzt Darko Miloradovic vom Dachverband der serbischen Vereine in Wien. Kurz gehe nicht auf die wahren Bedürfnisse der MigrantInnen ein, meint Miloradovic, nämlich "die eigene Muttersprache zu pflegen, Traditionen zu weiterzuführen". Stattdessen predige er den hohen Wert des deutschen Spracherwerbs. „Wozu? Will er Leuten wie mir Deutsch beibringen?", fragt Miloradovic. Von den 300.000 AustroserbInnen "brauchen höchstens zehn Prozent einen Deutschkurs", meint der Serbenvertreter. "Aber wo finden sie die Kurse dafür?" Sebastian Kurz sei jedoch kein Vorwurf zu machen, betont Miloradovic: "Er kann nichts dafür – das ist ein Problem der ÖVP", die sich in Integrationsdebatten immer aufs Deutschlernen versteife. „Wenn das so weiter geht, werden wir in zehn Jahren immer noch vom Deutschlernen reden – und die FPÖ wird längst die Wahlen gewinnen."

"Wollen anerkannt werden"

Enttäuscht ist auch Mevlüt Kücükyasar vom Dachverband der Kurdischen Vereine, Feykom. „Kurz geht auf den Brunnenmarkt und redet vor Kameras mit Unternehmern. Das ist nicht wirklich überzeugend." Auch Kücükyasar stört, "dass alles über die deutsche Sprache läuft. Deutsch ist gut – aber was fehlt, ist die Anerkennung, dass wir vollwertige Mitglieder dieser Gesellschaft sind." Bestimmte migrantenspezifische Probleme habe der Staatssekretär bislang noch überhaupt nicht angesprochen – etwa Armut und Wohnprobleme von MigrantInnen oder Traumata von Vertriebenen. Andere Vorschläge Kurz‘ seien positiv, aber "nicht neu", meint der Kurden-Vertreter. Beispielsweise Kurz‘ Ankündigung, die mitgebrachten beruflichen Qualifikationen von MigrantInnen anzuerkennen. "Wir haben viele Mitglieder, die nicht nur einen Beruf erlernt, sondern ein Studium abgeschlossen haben. Es wäre höchste Zeit, das endlich anzuerkennen."

Rassismus ist "unterbelichtet"

Birol Kilic von der Türkischen Kulturgemeinde sieht die ersten hundert Tage des Staatssekretärs primär als „PR für Sebastian Kurz". Das sei „schön für ihn, aber schlecht für die Integrationspolitik". Während Kurz das Gewissen der Mehrheitsgesellschaft beruhige, „werden türkische Immigranten in vielen Medien weiterhin stigmatisiert", und Kurz nehme dazu nicht Stellung. Das Thema Rassismus sei in Kurz‘ Agenda „unterbelichtet". In den Augen Kilics, der sich selbst als „überzeugten Moslem mit säkularer Einstellung" bezeichnet, sollte Sebastian Kurz „extremistische Vereine genauer unter die Lupe nehmen." Ebendiese Vereine seien der beste Beweis dafür, dass der Fokus aufs Deutschlernen ins Leere gehe, meint Kilic, denn: „Viele dieser Vereinsmitglieder sprechen gut Deutsch, aber sie vertreten trotzdem die türkische Politik. Solche Menschen sollten für österreichische Politiker keine Ansprechpartner sein."

"Leistung kein Indikator für Integration"

Eine gemischte Bilanz zieht Clara Akinyosoye, stellvertretende Chefredakteurin von Afrikanet.info: Sie zollt Kurz Respekt dafür, dass er „sich bemüht, Migranten nicht nur als Störfaktoren darzustellen und versucht, in einer sehr emotional geführten Debatte sprachlich abzurüsten." Negativ bewertet sie, dass Kurz „immer an die Leistung der Migranten appelliert". Schließlich gebe es auch unter den Zugewanderten „manche, die nicht so viel leisten können". Zudem sei es „vielleicht wünschenswert, dass Menschen fleißig sind, aber es ist noch kein Indikator, dass sie integriert sind." Für den größten Schwachpunkt der Kurz'schen Anlaufphase hält Akinyosoye, „dass Rassismus überhaupt nicht thematisiert wird". Die Diskriminierung von Minderheiten sei „ein Hindernis für jede Integration" und solle daher „zur Grundlage jeder Maßnahme gemacht werden". Wer dies nicht berücksichtige, „führt eine halbe Integrationsdebatte." (Maria Sterkl, derStandard.at, 28.7.2011)