Das kürzlich im STANDARD vorgestellte Interview mit dem international renommierten Islamforscher Josef van Ess sorgte für Aufsehen in der Fachwelt, weil van Ess, bislang unverdächtig revolutionärer Tendenzen, darin mit vorher nicht gehörten Aussagen aufhorchen ließ und in vielen Punkten mit traditioneller Sichtweise brach.

So lässt er den Islam nicht mit Mohammed beginnen - es sei unmöglich, einen Zeitpunkt zu benennen, sondern sieht die Religionsbildung in einem jahrhundertlangen evolutionären Prozess. Und auch dieser Prozess sei diametral entgegengesetzt zu dem verlaufen, was die islamische Tradition berichtet.

Nach islamischer Darstellung kam es schon bald nach Mohammeds Tod zu Spaltungen. Die ersten Abspalter seien die Kharidjiten gewesen, die sich ihrerseits wieder in Ibaditen und Mutaziliten aufgedröselt haben sollen. Die Abspaltung ("Schia") der "Partei des Ali" habe zum Schiismus geführt, der sich selber wieder in zahlreiche und extrem unterschiedliche Richtungen gliedert. Grund dieser Abspaltung seien stets theologisch-politische Zerwürfnisse rund um die Mohammed-Nachfolge gewesen.

Betrachtet man aber die ersten "Aussteiger" wie Kharidjiten, Ibaditen oder Mutaziliten, so fällt die vollkommen verschiedene Grundrichtung dieser Gruppierungen auf. Sie repräsentieren vor-mohammedanisches christlich-gnostisches Gedankengut.
Die Gnostik war ausgehend vom 2. Jahrhundert eine bedeutende theologisch-philosophische Bewegung im Orient, basierend hauptsächlich auf antiken und manichäisch - persischen Anschauungen. Die Ibaditen ("Die Knechte Gottes") waren eine Stammesföderation christlicher Araber aus dem südlichen Mesopotamien. Der Mutazilismus kannte neben verschiedenen Evangelien auch den Koran, stellte aber entgegen orthodoxer Meinung klar, dieser sei erschaffen und dürfte daher diskutiert werden. Die Rationalität war oberstes Gebot. Als etwa der mutazilistische Herrscher al-Mamun (786-833) von dem koranischen Bild einer flachen Erde hörte, die seine Gelehrten nach hellenistischem Standard aber als Kugel definierten, ließ er in der Steppe von Mossul nachmessen. Ergebnis: Eine Kugel mit einem Umfang von umgerechnet 40 075 km (korrekt 40 235 km).

Gnostiker und arabische Christen

Die christlich-gnostischen Ibaditen waren schon früh als persische Verbündete nach Ägypten gelangt und stießen weiter nach Nordafrika und schließlich Spanien vor, das bis gegen Ende des 9. Jahrhunderts zwar orientalisch beeinflusst, aber nicht "islamisch" gewesen sein kann. Die stark altpersisch- und nestorianisch unterfütterten Schiiten waren vom Iran bis nach Indien hinein verbreitet (von wo der Islam im Gegenzug den buddhistisch angehauchten Sufismus bezog).

Wer aber war Gnostiker, wer war Christ, wer war Muslim, und wenn ja welcher?
Die nach Spanien übergesetzten Ibaditen teilten sich 60 Jahre lang eine Kirche in Cordoba mit den Einheimischen und richteten weder den Neubau dieser "Mezquita" noch ihre nordafrikanischen "Moscheen" oder die älteste "Moschee" Kairos (heute Ibn As Moschee) nach Mekka aus. Das war das Bild bis ins 10. Jahrhundert. Wie will man da von "dem Islam" sprechen?

Man kann es nicht. Deshalb weigert sich van Ess ein Gründungsdatum zu akzeptieren - und es beantwortet viele Fragen, die mit der traditionellen Gründung des Islam im Jahr 622 nicht zu beantworten sind. Allmählich aber gewann die Orthodoxie mohammedanisch-medinesischer Ausprägung die Oberhand. Die anderen Richtungen wurden geographisch wie physisch an den Rand des Geschehens gedrängt oder verschwanden ganz (Den Sieg der Orthodoxie über den Mutazilismus nennt der ägyptische Theologe Ahmad Amin das größte Unglück in der Geschichte des Islam).

Von der Pluralität zur Einheit

Weil der Druck auf die Abweichler so groß wurde, legten sie sich passende Gründungslegenden zu und begaben sich über die nur schwach definierte Grenze auf islamisches Gebiet. Man denke an die zahlreichen Religionsgemeinschaften allein im Nahen Osten: Von Aleviten, Alawiten und Drusen über Ismailiten, Imamiten, Ibaditen und Nusairier bis hin zu den Zaiditen. Sie segeln heute unter muslimischer Flagge, aber sind sie überhaupt Muslime? Im Fall der Aleviten eindeutig nicht, im Fall der Zaiditen eindeutig ja - der Rest verteilt sich im Minenfeld des Niemandsland.

Gemeinsam haben diese Religionsgemeinschaften, dass sie verschiedene frühislamische und vor-mohammedanische Richtungen repräsentieren. Sie haben sich mehr schlecht wie recht als Kryptochristen oder Schmalspurmuslime über die Zeiten gefrettet, aber dass der Schlusspunkt nicht gesetzt ist, zeigt der Fall der Aleviten in Österreich. Sie scherten 2009 aus dem offiziellen Muslimverband (IGGiÖ) aus, Ende 2010 gelang ihnen in einem Berufungsverfahren die Anerkennung als eigene Religionsgemeinschaft, was völlig neue Perspektiven eröffnen könnte.

Summa summarum hat im Islam keineswegs die beklagte Aufspaltung vom Einen Richtigen zu Vielen statt gefunden, sondern es dominierte die Bestrebung, die bereits bestehenden Richtungen zu einem "Islam" zusammenzufassen. Van Ess: "Die Pluralität steht am Anfang, die Einheit kommt später." Dass wir heute pauschal von "den Muslimen" reden, was die Forscher des 19. Jahrhunderts nur selten oder gar nicht taten, ist auch ein Ergebnis dieser Bestrebungen. Dies bewirkten die so genannten Reformer des späten 19. Jahrhunderts, die aber, Reformen hin oder her, letztlich nichts anderes wollten als einen Einheitsislam.

Sie hatten nur wenig Erfolg damit. Der Erfolg kam erst ein knappes Jahrhundert später mit dem Öl, als Saudi Arabien mit vielen Milliarden an Petrodollars eine beispiellose Missionierung startete. Es sollte aber die Welt nicht nur simpel zum "Islam" bekehrt werden, sondern zum wahhabitischen Sunnismus. Der Bekehrungserfolg Ungläubiger fiel recht bescheiden aus. Aber der Erfolg innerhalb der islamischen Welt war durchschlagend: Diese nahm das stets finanziell unterlegte Angebot an, Hauptströmung im Islam weltweit ist nun der wahhabitisch eingefärbte Sunnismus zentralarabischer Prägung. 

Van Ess: "Durch die Medien ist es viel leichter möglich, ein verbindliches Bild vom Islam unter die Leute zu bringen und etwa mit Geld durchzusetzen." Und weiter: "Die Ironie der Geschichte hat dann dazu geführt, dass schließlich der moderne Fundamentalismus daraus geworden ist." (Leser-Kommentar, Norbert Schmidt, derStandard.at, 22.7.2011)