
Literarisches Ausstiegsszenario aus Hartz IV: 2009 gewann Thomas Mahler den Literaturpreis Prenzlauer Berg.
Das Setting des Buches In der Schlange. Mein Jahr auf Hartz IV (Goldmann-Verlag, 2011) von Thomas Mahler erinnert an Günter Wallraffs berühmte Undercover-Reportagen aus den 1970ern: Ein Schriftsteller steigt in die Untiefen des sozialen Statusverlusts hinab, beantragt das im Volksmund "Hartz IV" genannte Arbeitslosengeld II und schreibt ein Buch über seine Erfahrungen. Aber der 1979 geborene Thomas Mahler ist kein zweiter Wallraff. "Wäre ich er, hätte ich jeden Augenblick die Möglichkeit gehabt auszusteigen", sagt der in Bonn aufgewachsene und in Berlin lebende Mahler. "Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, undercover im Niedriglohnsektor zu arbeiten. Wenn man da plötzlich sagt: ,Pass auf, ich bin Günter Wallraff', hätte der Chef wohl Angst." Diese Handlungsmacht war Mahler als tatsächlichem Hartz-IV-Empfänger nicht gegeben. Der schüchtern wirkende junge Autor hat auch nichts von dem selbstdarstellerischen Habitus, den es auf der medialen Bühne in der Rolle des Chefanklägers sozialer Missstände wohl braucht. Auch als freier Autor lebt er weiter in seiner 30-Quadratmeter-Studentenbude in Kreuzberg.
In der Schlange ist mehr Bekenntnis- als Aufdeckerbuch: der Versuch einer zuweilen humorvoll distanzierten, dann wieder schmerzlich intimen Selbstbeobachtung. Insofern erstaunt es wenig, dass der Text für ihn auch eine Art von "Outing" darstellt. "Im Grunde ist es skandalös und dämlich, dass man nicht darüber redet", betont er im Gespräch. "Letztendlich ist der Statusverlust auch für Nichtakademiker immer noch fühlbar. Dabei geht es doch nur um eine finanzielle Hilfe und nicht um diese ganzen moralischen Konstrukte rundherum."
Tagelöhnerhaftes Prekariat
Zum Arbeitsamt drängen Mahler im Sommer 2008 die rapide schwindenden Aussichten auf eine inhaltlich und ökonomisch erfüllende Tätigkeit. Wie viele Absolventen eines geisteswissenschaftlichen Faches war er nach dem Studienabschluss in ein tagelöhnerhaftes Prekarium abgeglitten. Ein paar Stunden Nachhilfe, Nobel-Catering im Pinguinkostüm und schließlich Barmann in einem Neuköllner Biergarten: nicht präzise das, was einer, der eben noch seine Diplomarbeit über Ludwig Wittgenstein verfasste, vom Leben nach der Uni erwartet. "Dass dieses Studium auf keine konkrete Arbeitsstelle hinauslief, hatte mich nicht bekümmert", schreibt Mahler in seinem Buch. "Die Juristen, BWLer und Lehrämtler, die bloß studierten, um später einmal ihren Lebensunterhalt zu verdienen, hatten mir leidgetan." Nachdem es ihm auch nicht gelingt, ein Stipendium für die Doktorarbeit zu erhalten, wandelt sich die einstige Überheblichkeit in eine Mischung aus Ratlosigkeit und Zukunftsangst.
Präzise beschreibt Mahler, wie der Schritt in die staatliche Obsorge sein Selbstbild und bald auch seine Verhaltensweisen verändert. Beim Gang zum Arbeitsamt erfasst ihn ein unangenehmes Gefühl der Scham, was ihn dazu verleitet, sein Fahrrad 300 Meter früher abzustellen, "damit man es nicht direkt vor dem Arbeitsamt sehen kann". In der titelgebenden Schlange vor dem Amt beginnt in Mahlers Kopf ein Kampf zu toben. Das Gefühl des Scheiterns versucht er mit Strategien der Rechtfertigung zu bekämpfen: Es soll ja nur ein zeitlich begrenzter Übergang für ein paar Wochen sein. Um nicht gleich wieder die Flucht zu ergreifen, sagt er sich vor: "Immer noch besser, als arbeiten zu gehen und sich trotzdem gedemütigt zu fühlen", nur um sich gleich selbst ins Wort zu fallen: "Ich bin mir nicht sicher, ob das jetzt besser ist."
"Meinen Eltern ging es immer ganz gut", benennt Mahler im Gespräch einen biografischen Grund für seine Hemmungen, sich arbeitslos zu melden: "Ich hatte nie das Gefühl, dass ich den Staat einmal um Hilfe bitten muss." Die Zerstörung der Mittelschichten (2007), wie der italienische Arbeitssoziologe Sergio Bologna eine einschlägige Studie betitelte, ist mittlerweile zu einem zentralen Topos der Sozialforschung geworden. Durch die zunehmende Fragmentierung der Erwerbsbiografien schwinden einstmals eherne soziale Verbindlichkeiten. Insofern haftet Mahlers Buch etwas Symptomatisches an: Die Angst vor Job- und damit Statusverlust ist in einer Bevölkerungsschicht angekommen, die sich noch vor 20 Jahren in weitestgehender Sicherheit wähnte. Auf Partys gerät Mahler in der Folge in peinliche Gesprächssituationen: "Da hatte ich manchmal das Gefühl, dass man sich gegenseitig belügt. Ich hatte den Verdacht, dass der andere so wie ich Hartz-IV-Empfänger ist und es auch nicht sagen will. Aber man erkennt sich gegenseitig an den Codes."
Im Buch beschreibt Mahler, wie er in Bezug auf sein unmittelbares soziales Umfeld zwischen Scham und trotziger Wurschtigkeit schwankt. Sukzessive wird er von einer Antriebslosigkeit erfasst, die in krassem Gegensatz zur Rhetorik der Ermutigung und Wiedereingliederung steht, mit der die Hartz-IV-Reformen der Bevölkerung von der Politik verkauft worden waren. Nach einem Dreivierteljahr in äußerst fragwürdigen Motivations- und Beschäftigungskursen diagnostiziert er an sich selbst eindeutige Symptome einer inneren Verwahrlosung, die er in seinem Buch drastisch beschreibt: "Ich bin abhängig geworden. Ich habe zwar anfangs bloß damit experimentiert, doch jetzt bin ich vollends unter den Einfluss der Droge Hartz IV geraten, einem legalen Opiat mit dem zentralen Wirkstoff Scham, die die statussensiblen Hirnareale befällt und in Verbindung mit Stolz und sozialer Isolation eine betäubende Dynamik entfaltet."
Jeden Glauben verloren
An eine reguläre Rückkehr auf den "ersten Arbeitsmarkt" hat Mahler zu diesem Zeitpunkt längst jeden Glauben verloren. Seine Selbstachtung ist auf null gesunken: "Ich bin jemand, den ich lieber nicht so genau kennengelernt hätte." Aus der zeitlichen Distanz fällt es Mahler heute leichter, die politische Funktion der Programme zur Verwaltung und Verschleierung der Massenarbeitslosigkeit zu benennen. "Ich habe den Eindruck, dass die Arbeitslosen als Folie zur Stabilisierung der Gesellschaft gebraucht werden", erklärt er im Gespräch. "Einfach durch die Abgrenzung, die darin besteht, dass man sagt: Ich mach zwar diese Scheißarbeit, aber ich bin wenigstens nicht vom Staat abhängig."
Sein letztendlich glückliches Ausstiegsszenario aus dieser Hölle der Passivität verdankt sich einigen mindestens so glücklichen Zufällen. Beim Literaturpreis Prenzlauer Berg reicht er 2009 mehr aus Jux denn aus echter Überzeugung einen Text über ein Panzerbataillon ein, das sich auf feindlichem Gebiet verirrt und einen im Weg stehenden Elefanten erschießt, anstatt auszuweichen, und den Kadaver mühsam aus dem Weg räumen muss. Prompt erringt dieser Text den ersten Platz, was der zu diesem Zeitpunkt schon reichlich desillusionierte Mahler zunächst kaum glauben will. Kurze Zeit später wird er gar von einem Literaturagenten kontaktiert. "Dann fragte er, was ich denn eigentlich so mache im Leben, und ich murmelte etwas von Arbeitslosigkeit, vor einiger Zeit mal ein paar Monate lang", beschreibt Mahler in seinem Buch den entscheidenden Augenblick seiner Rettung. Was der Agent nicht weiß: Mahler ist nach wie vor Hartz-IV-Empfänger.
Der euphorischen Reaktion des Agenten ("Hochaktuell! Authentisch!") folgt die Arbeit an Exposé und Text - und mit der Aushändigung des Verlagsvertrages schließlich der Ausstieg aus der Hartz-IV-Welt. Ein wenig fühlt Mahler sich am Ende doch noch wie Günter Wallraff, während er im Bewusstsein des baldigen Endes noch einige Tage weiterarbeitet. "Es ist etwas völlig anderes, in einem Milieu nur zu recherchieren und dabei sein Selbstbewusstsein insgeheim aus der Differenz zu diesem Milieu zu beziehen, als diesem Milieu selber anzugehören", schreibt Mahler in seinem Buch. In der Schlange ist kein bloßer Erfahrungsbericht, sondern ein Tatsachenroman über die temporäre Krise einer Existenz, in der sich auch die fundamentale Krise des gegenwärtigen Verhältnisses von Arbeit und Gesellschaft spiegelt. (Helmut Neundlinger / DER STANDARD, Printausgabe, 23./24.7.2011)