In den letzten Wochen erschienen immer wieder wohlwollende Artikel der "Erwachsenen" über die Proteste der "Jugend" in Spanien und Griechenland. Was mich an diesen Artikeln stört, ist der paternalistische Unterton, der meines Erachtens oft nur eine Verständnislosigkeit kaschieren soll und im Kern eine vielleicht unbewusste Infantilisierungsstrategie darstellt. Meiner Meinung nach ist weder die Bezeichnung "Jugendproteste" angebracht noch die Frage nach einer parlamentarisch/ parteiförmigen Kanalisierung der Proteste, nach der immer wieder gesucht wird.

Jugendbegriff?

Blickt man auf die Bilder, die uns aus Madrid, Barcelona, Athen aber auch zuvor aus Kairo und Tunesien erreicht haben, ist es schlichtweg nicht so, dass hier nur Jugendliche protestieren. Darüber hinaus ist ein/e AkademikerIn mit 28 oder über dreißig Jahren kein/e Jugendlich/e mehr. Viel mehr sollte dieser Protest gesehen werden als das, was er ist, ein Protest derer, die zwischen den unterschiedlichsten Zonen prekärer Arbeits- und Lebensweisen changieren. Zurzeit sammelt sich in der Altersgruppe von den 20 bis 30+ eine Generation von bestens ausgebildeten Menschen, die aber aufgrund der in den letzten Jahren verstärkt voranschreitenden Prekarisierungstendenzen keine Perspektive auf ein Normalarbeitsverhältnis mehr haben.

Der dahinterliegende Trend ist gesamtgesellschaftlich. Die Bezeichnung Jugendprotest ist also paternalistisch und herabsetzend. Wer die Proteste so bezeichnet, hängt an einem Jugendbegriff, der längst überholt ist. Wer ist dann ein "Erwachsener"? Jemand, der einen fixen Job hat, Familie, vielleicht nicht mehr bei Mutti lebt?

Wacht auf, diese Gesellschaft verwehrt immer mehr Menschen diese Perspektive, des vermeintlichen "Erwachsenwerdens". Ein Nachdenken über Begriffe wäre sehr angebracht und kein Übernehmen vermeintlicher überhistorischer Bezeichnungen "sans phrase". Die Proteste sind Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Trends und die, die am wenigsten zu verlieren haben und große Desintegrationsmomente erfahren, dabei aber sehr viel soziales Kapital besitzen, sind die ersten, die sich zum Protest finden, ohne dabei explizit Jugendthemen anzusprechen.

Politische Zusammensetzung

Was immer wieder auftaucht ist die Frage der parlamentarischen und damit parteiförmigen Repräsentation dieser Proteste. Es erscheint mir, als würde versucht, den Bewegungen eine inadäquate Perspektive überzustülpen, die vollkommen an der politischen Zusammensetzung dieser Proteste vorbeigeht. Hört hin: "Demokratie Jetzt; Haut ab; Ihr seid Diebe". Aber natürlich stellt sich die Frage, was dann?

Betrachtet man einige soziale Bewegungen seit den 1990er Jahren, so kann man ein Muster erkennen. Parlamentarische Demokratie als Form der gesellschaftlichen Organisation und Parteien als Träger des Protests werden immer öfter in Frage gestellt. 1994 Chiappas, 2000 Cochabamba, 2001 Argentinien, El Alto, Oaxaca, Exarchia in Athen, Universitätsbesetzungen 2009 usw. Trotz gravierender Unterschiede können doch einige Gemeinsamkeiten festgestellt werden. All diese Bewegungen hatten einen der bürgerlichen Demokratie fremden Zeithorizont. Nicht das evolutorische Konzept einer Chronos - Zeit, sondern der Imperativ des "Ya Basta - es reicht" sind zentral.

Der Moment, die Selbsttätigkeit rücken ins Zentrum. Daran gekoppelt ist ein immens hoher Grad an Selbstorganisation, der, zwar auf niedrigerem Level, auch nach Abebben von Bewegungen zu beobachten ist. Diese Perspektivierung beinhaltet auch die Versuche der Verwirklichung einer mehr oder minder egalitären demokratischen Organisationsweise. Eine im Gegensatz zur vertikal strukturierten bürgerlichen Demokratie, horizontale egalitäre Vernetzung; ohne die Vermittlung durch Verbände, Parteien oder ähnlichem. Diese werden zu Recht als Teil, vielleicht als antagonistische Elemente, aber immer noch als Teil einer vertikalen Gesellschaftsstruktur begriffen, die immer mehr zu einem staatlich vermittelten, autoritären Neoliberalismus tendiert.

Ökonomische Zusammensetzung

Was vielleicht für viele, die sich selbst weiter links sehen als die Sozialdemokratie, oft als Irritationsmoment dieser Bewegungen besteht, ist die organisatorische und räumliche Trennung vom vermeintlichen Zentrum und Brennpunkt aller gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, nämlich dem Arbeitsplatz.

Und an dieser Frage sind einige zentrale Charakteristika dieser Bewegungen festzumachen. Die Trennung der Bevölkerung in eine Kernbelegschaft der zumeist industriellen Wachstumsinseln und gesellschaftlichen Peripherien oder prekären Randbelegschaften. Während Kernbelegschaften am Arbeitsplatz eine zwar immer schlechter werdende integrative Perspektive haben, besitzen die Randbelegschaften weder einen dauerhaften sozialräumlichen Bezugspunkt wie den Betrieb, noch eine gesellschaftlich integrative Zukunftsperspektive im Sinne einer Etablierung über ein geregeltes und kontinuierliches Erwerbseinkommen.

Damit fällt aber auch der sozialräumliche Brennpunkt Arbeitsplatz, als Terrain gesellschaftlicher Kämpfe, weg. Die Stadt, der öffentliche Raum und die Verkehrswege, die zu Lebensadern des heutigen just-in-time Kapitalismus geworden sind, werden schon seit längerem und nun auch in Europa, die zentralen Arenen dieser Kämpfe. Doch die Kämpfe sind nicht vollkommen entkoppelt von den Kernbelegschaften. Oft sind es die erwachsenen Kinder einer industriell geprägten ArbeiterInnenklasse, die heute auf den Plätzen campieren.

Bisher ist noch zu viel zu verlieren bei den Kernbelegschaften, aber die Dauerkrise neoliberaler Managementstrategien in Form von Arbeitszeitverdichtung, Leistungssteuerung, Umstrukturierungen uvm. hinterlassen auch hier viel Überforderung, Angst aber auch Wut. Diese Wut richtet sich zumeist (noch) nicht gegen das brötchengebende Unternehmen, sondern in erster Linie gegen die, die die politischen Weichenstellungen in Richtung Flexibilisierung und Prekarisierung verbrochen haben. 

Welche Schlüsse können also gezogen werden? Es ist kein Jugendprotest. Es ist ein Protest, der getragen wird von einem weitverbreiteten Bruch mit neoliberalen Gesellschaftsvorstellungen und mit all jenen politischen Repräsentationsformen, die den Neoliberalismus vorangetrieben haben. Nichts weniger als das vertikale System bürgerlich-parlamentarischer Gesellschaftsorganisation wird zusehends von breiten Teilen dieser Bewegungen in Frage gestellt.

Konkrete Utopien

Diesen Bewegungen eine Perspektivenlosigkeit vorzuwerfen ist ein Hohn. Insbesondere wenn der griechische Vizepremier mit Panzern droht, die die Banken vor der wütenden Bevölkerung schützen müssten, frage ich mich, wo die Perspektivenlosigkeit beheimatet ist?
Vielmehr sind wir Zeugen von Formierungsprozessen kleiner Keimformen hin zu einer horizontal demokratischen Organisationsweise der Gesellschaft. Ein Prozess, dem aufgrund der Ermattung industriell-fordistischer Entwicklungsweisen unserer Gesellschaften die materielle Basis gelegt wurde. Verlaufsformen und Konstitutionsmomente dieses Prozesses sind anders als die vergangenen Bezugspunkte der Linken, wie die "proletarische Massenpartei" oder ein betriebsbezogenes Agieren.

Im Zentrum steht im weitesten Sinne der Begriff der "Commons", dessen räumlicher Kumulationspunkt die kommunal-metropolitane Vernetzung und Revolte darstellt. Im Endeffekt könnte man interpretieren, beobachten wir heute das (Wieder-)aufkommen der Idee einer kommunalen Rätedemokratie in all ihrer aktuellen Widersprüchlichkeit. In diesem Sinne "la commune n´est pas mort" und bitte nicht mehr von einer "Jugendbewegung" sprechen. (Leser-Kommentar, Mario Becksteiner, derStandard.at, 25.7.2011)