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Adelheid Kastner: "Es ist nicht so ohne weiteres vorstellbar, so viele Menschen Auge in Auge zu töten"

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Blumen und Kerzen zum Gedenken an die Opfer des Attentats in Norwegen

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derStandard.at: Ist Anders Breivik ein Amokläufer?

Kastner: Nein. Amokläufer schließen in der Regel mit der Welt ab. Diese Menschen fühlen sich unverstanden, verletzt, finden keine Anerkennung und beschließen deshalb bevor sie gehen, noch in aller Grandiosität zu demonstrieren, wozu sie eigentlich fähig sind. Nach dem Motto: Wenn die anderen meine guten Seiten nicht schätzen, dann zeige ich es ihnen halt auf negative Art und Weise. Der Suizid ist hier der geplante Endpunkt. Bei Anders Breivik ist das ganz und gar nicht der Fall. Er wollte am Leben bleiben, um den Erfolg seiner Aktion auch zu erleben und in irgendeiner Form daran zu partizipieren.

derStandard.at: Aber auch er hält seine Tat für grandios, bezeichnet sich selbst als Held. Ist er ein Narzisst?

Kastner: Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall aber ist er ein Fanatiker, der von seiner Idee völlig durchdrungen ist. Alles andere hat für diesen Mann an Bedeutung verloren, beziehungsweise wurde es nach hinten gereiht. Um dieser überwertigen Idee zum Durchbruch zu verhelfen, musste Breivik den Tod vieler Menschen natürlich in Kauf nehmen. Ob ein Einzelner so etwas macht oder eine ganze Gruppe von Fanatikern, wie sie die Al-Quaida darstellt: der Mechanismus ist immer derselbe, nur die Größe des Schadens, der angerichtet wird, ist eine andere.

derStandard.at: Ist solchen Menschen denn die Grausamkeit ihrer Tat im Moment der Ausübung bewusst?

Kastner: Die Täter abstrahieren. Leider wachsen hier immer eine ganze Reihe von verkürzten Erklärungsmodellen, aus dem Boden. Da tragen dann zum Beispiel die Internetspiele die alleinige Schuld. Das Ganze ist aber ein Bedingungsgefüge und die Internetspiele sind nur ein Mosaiksteinchen im Gesamtgemälde, das sich Breivik selbst zusammengesetzt hat. Vermutlich hat er in diesen Ego-Shooter-Spielen trainiert reihenweise auf Leute zu schießen, um sich zu desensibilisieren. Es ist ja nicht so ohne weiteres vorstellbar, so viele Menschen Auge in Auge zu töten.

derStandard.at: Selbst zusammengesetzt bedeutet aber auch, dass Breivik wusste, was er tat und keine psychische Erkrankung dahinter steckt?

Kastner: Ich gehe davon aus, dass er sehr lange wusste, was er tut. Ob das letztendlich in eine krankheitswertige Störung gekippt ist, kann ich nicht sagen. Da solche Tragödien glücklicherweise selten sind, lassen sich hier schwer Gesetzmäßigkeiten herauslesen. Es ist daher auch ein Unding Präventivmaßnahmen zu setzen, weil es viele Menschen gibt, die sich auffällig verhalten. Aber die wenigsten davon werden zu Massenmördern. Diese Auffälligkeiten sind zu unspezifisch.

derStandard.at: Welche Parallelen finden sich zu anderen Fanatikern?

Kastner: Was man analog beobachten konnte: Sämtliche Täter funktionieren eine Zeit lang völlig normal. Und wenn man Ursachenforschung betreibt, findet sich immer irgendeine Kränkung. Irgendwer steigt diesen Menschen auf die Zehen. Und anders als andere können sie diese Kränkung nicht ad acta legen, sondern ruminieren (Anm. "wiederkäuen") diese. Das individuelle Erleben wird also irgendwann zur generalisierten Weltanschauung. Natürlich ist das ein Prozess, der über längere Zeit verläuft.

Ein Beispiel: Wird jemand von einem türkischen Schulkollegen gekränkt, kann sich dieses negative Erleben über einen langen Zeitraum auf die gesamte Volksgruppe ausweiten. Der Täter fühlt sich zunächst von dieser ganzen Gruppe bedroht, vermeint schließlich, dass die gesamte westliche Zivilisation bedroht sei und findet in Internetforen Menschen, die ähnlichem Gedankengut anhängen, denen aber - aus seiner Sicht - der Mut fehlt etwas zu unternehmen. Und dann kommt langsam die Überzeugung, dass dieses eine zentralen Anliegen, diese eine Idee, die "überwertig" geworden ist, nämlich der Bedrohung entgegenzuwirken, der Wert ist, für den es sich lohnt, mit allen Mitteln zu kämpfen.

derStandard.at: Eine Idee, die Breivik in seinem Manifest akribisch dokumentiert hat.

Kastner: Ja, dieses Dokument zeigt wie sich der kleine Herr Breivik seine Welt so zusammendenkt und zeigt auch, dass er sich von anderen offenbar durchaus verstanden und unterstützt gefühlt hat. Der Knackpunkt ist: Solange ein Täter in dieser überwertigen Idee drinnen steckt, weiß er sehr wohl, dass andere anders denken als er und dafür auch gute Gründe haben mögen. Allerdings kann sich aus diesem Fanatismus für eine Idee ein Wahn entwickeln. Ein wahnkranker Mensch glaubt, dass alle anderen so denken wie er, aber zu feig oder bestechlich sind um entsprechend zu agieren.

derStandard.at: Braucht es einen konkreten Anlass, um so ein Konstrukt in die Tat umzusetzen?

Kastner: Nein, es passiert nicht plötzlich wie beim Amokläufer, bei dem die angestaute Aggression explodiert. Breivik hat seine Tat über Jahr minutiös logistisch, mit einer diabolischen Perfidie, geplant.

derStandard.at: Fanatismus ist keine psychische Krankheit und als solche vermutlich auch nicht behandelbar? Ist Anders Breivik überhaupt zu helfen?

Kastner: Das stimmt. Fanatismus ist eine sehr subjektive Sicht der Welt und im eigentlichen Sinn nicht behandelbar. Wahn jedoch ist eine Erkrankung und wir wissen nicht, ob die überwertige Idee des Herrn Breivik bereits wahnhaft war. Im Wahn fehlen Alternativszenarien und der freie Wille, der im überwertigen Stadium noch zur Verfügung steht. Der Übergang von der Gestörtheit des Fanatismus in die Krankheit Wahn erfolgt fließend. Eine psychiatrische Evaluierung des Herrn Breivik erfolgt erst. 

derStandard.at: Der Historiker Gerhard Botz hat gestern in der ORF-Fernsehsendung "Runder Tisch" gesagt, der Mann solle nicht als Einzeltäter abgetan werden, denn die Ideen seien in der Gesellschaft vorhanden. Heißt das, solche Tragödien sind unvermeidbar?

Kastner: Das ist eine sehr verkürzte Sicht der Dinge. Man muss zwischen Form und Inhalt unterscheiden. Die Form gibt die Persönlichkeitsentwicklung vor. Das heißt, ob jemand überhaupt fanatisch oder wahnhaft werden kann, ist eine ganz persönliche Angelegenheit. Die Inhalte, dagegen können durch gesellschaftlich vorhandene Dinge mitbestimmt werden. Denken Sie an fanatische Umweltschützer oder Frauenhasser. Insofern sind rechtsextreme Ideen und die im Internet verfügbaren freundlichen Bestätigungen natürlich auch mitverantwortlich, für das was hier passiert ist. Ganz einfach, weil Breivik sich dadurch bestätigt fühlte. 

derStandard.at: Die Mutter war Alleinerzieherin - andere Medien schreiben von der fehlenden Identifikationsfigur des Vaters. Lässt sich bei solchen Taten, die Ursache in der Kindheit finden?

Kastner: Im Wesentlichen nicht. Ich gehe mit Sicherheit davon aus, dass dieser Mann irgendwann einmal von irgendjemandem gekränkt wurde. Das kann eine Kleinigkeit gewesen sein. Er dürfte schlechte Strategien haben, um mit Kränkungen umzugehen. Das heißt, sein Selbstwert dürfte ebenfalls klein sein, sonst würde er diese Kränkung abschütteln. Es ist Humbug in diesem Zusammenhang Eltern zu beschuldigen oder Erziehungsmethoden zu kritisieren. Erstens sind Erziehung und die Kindheit sowieso immer nur bedingt schuld und zweitens besitzen Erwachsene in der Regel, solange sie nicht psychisch krank sind, durchaus die Fähigkeit, eigenverantwortlich zu entscheiden. (Regina Philipp, derStandard.at, 25.7.2011)