Melancholie und Verzweiflung: Sean Penn als Opfer seiner Trauer in Clint Eastwoods "Mystic River"...

Foto: Warner Bros.

... - ein ernst zu nehmender Preiskandidat im heuer insgesamt matten Festivalprogramm.

Foto: Warner Bros.

Cannes - Die 56. Filmfestspiele, sie treten in die Endphase. Und so viel kann man jetzt schon sagen: Es waren bei weitem die schwächsten, die man in Cannes in den letzten Jahren erlebt hat. Vor allem amerikanische Branchenblätter wie etwa Variety fragten also konsterniert, wie es dazu kommen konnte. Immer deutlicher zeichnet sich jedoch ab, dass die amerikanischen Studios und Produzenten daran nicht ganz unbeteiligt waren.

Harvey Weinstein, der berühmte, berüchtigt ruppige Chef von Miramax, sagte es ja schon zu Beginn jedem, der es an der Croisette hören wollte: "Wenn dieses Festival langweilig wird, werfe ich einen Franzosen ins Meer" - was ihm sicher Beifall aus der republikanischen Ecke eintrug. Gleichzeitig war Weinstein selbst für einen gewissen Mangel an echten Höhepunkten mitverantwortlich: Quentin Tarantinos Kill Bill, von ihm koproduziert, wurde laut extrem kurzfristiger Ankündigung "nicht fertig". Und weil Kill Bill und viele andere, eigentlich in Cannes erwartete Werke von Jane Campion oder den Coen-Brüdern jetzt vermutlich in Venedig gezeigt werden, freut sich Weinstein ostentativ auf den Lido.

Man darf es ruhig so lesen: Viele US-Studios brauchen derzeit vielleicht Promotion, aber ein Preis aus Frankreich, das kommt in der Heimat von Uncle Sam definitiv nicht so gut. Also: Venedig. Der dortige Direktor Moritz de Hadeln darf sich die Hände reiben.

"Unbeliebte" Stars

Vor diesem Hintergrund sprach es wieder einmal für den US-Regisseur und Schauspieler Clint Eastwood, dass er sein neuestes Werk Mystic River, das eigentlich erst im Oktober in die US-Kinos kommt, gelassen im Wettbewerb platzierte. Dies hat erst recht Signalwirkung, weil zwei Hauptrollen mit Darstellern besetzt sind, die sich bei den US-Patrioten ziemlich unbeliebt gemacht haben: Sean Penn und Tim Robbins geizten zuletzt ja nicht gerade mit Kritik an Bush und Co. Augenfällig ist drittens, dass Eastwood mit seinem Epos, in dem Opfer in Täterrollen schlüpfen, tatsächlich auch einen markanten Kommentar über die USA gestaltet hat - monumental, wie ihm das zuletzt wohl nur mit Unforgiven und A Perfect World gelang.

Drei Männer in der irischen Community von Boston können sich nicht von einem Kindheitstrauma lösen. Einer der drei Freunde wurde einst von Päderasten entführt, seither quält jeden die Frage, was geschehen wäre, wenn ein anderer zu den brutalen Typen ins Auto gestiegen wäre. In diese Mischung aus Melancholie und Verzweiflung explodiert Jahrzehnte später eine neue Gewalttat: Die Tochter des von Sean Penn mit ingrimmiger Großherzigkeit gespielten Jimmy wird ermordet. Schnell fällt der Verdacht auf den einst beschädigten Dave (Tim Robbins), und der Polizist Sean (Kevin Bacon) hat sichtlich Mühe, bei seinen Investigationen das einstige Nahverhältnis hintanzustellen.

"A man's gotta do what he's gotta do": Frei nach dem einstigen Dirty Harry-Zitat, das Eastwood seit seinen Jugendtagen so mannigfach gebrochen und in Richtung einer zunehmend komplexen Reflexion von Gewalt variiert hat, kann auch hier keiner über seinen Schatten springen.

Was zuerst als relativ konventioneller Großstadtkrimi beginnt, weitet sich aus zu einem fast opernhaften tragischen Finale, mit der vielleicht deprimierendsten Darstellung einer US-Parade, die seit Jahren im Kino inszeniert wurde. Jeder ist von jedem abhängig, keinem gerät es wirklich zum Vorteil. Recht zu behalten, das ist bei Eastwood, der diesmal hinter der Kamera blieb, weit entfernt von Gerechtigkeit. Bestenfalls dient es der Aufrechterhaltung eines oberflächlichen Friedens.

Neben Lars von Triers Dogville wird Mystic River also als einer der raren seriösen Favoriten für die diesjährige Goldene Palme gehandelt, die am Sonntagabend vergeben wird. Der bis dato überraschendste Erfolg bei Kritik und Publikum wurde aber einem Beitrag aus der Türkei zuteil.

Die Zwangs-WG

Uzak von Nuri Bilge Ceylan porträtiert in lakonischer, manchmal an Jim Jarmusch und Aki Kaurismäki erinnernder Form die Zwangswohngemeinschaft zweier Männer in Istanbul: Der eine ging seines Jobs im Hinterland verlustig. Also nimmt er bei seinem einstigen Dorfnachbarn, der jetzt als Fotograf in der Großstadt durchaus gut leben kann, Quartier.

Selten wurde die Türkei, zumindest aus "westlicher" Perspektive, weniger exotisch gezeigt. Mit zum Teil trockenem Humor und oft auch ziemlicher Distanz zu religiösen und sozialen Traditionen zeigt Nuri Bilge Ceylan Dialoge über Leben, Arbeit und (oft käufliche) Liebe in Zeiten der Rezession. Und er zeigt auf quasi zeitlose Weise, wie einander wohl nur Männer nerven können.

Einmal missbraucht der Fotograf ein nicht enden wollendes Tarkowskij-Video (Stalker), um seinen Kumpan aus dem Wohnzimmer zu treiben: Eigentlich will er sich nämlich, und zwar allein, ein Pornovideo ansehen. Immer wieder wird eine Mausefalle zum Anlass für kleine Spitzfindigkeiten. Am Ende bleibt jeder für sich allein. Die Krise geht weiter. Nicht einmal im engsten privaten Kreis ist so etwas wie Solidarität, eine dauerhafte Basis herzustellen.

Man kann nur hoffen, dass Uzak auch einen österreichischen Verleih findet - nachdem dieses Festival nicht gerade mit potenziellen Welterfolgen gesegnet war. Übrigens: Auch der so genannte "Markt" als Plattform für Käufer und Verleiher war heuer schwächer besetzt denn je. Viele Marktkojen wurden gar nicht erst gemietet. Man durfte dies ebenfalls als Zeichen dafür lesen, dass die herbe Gegenwart auch vor traditionellen Glanz-und Glamourfesten wie dem in Cannes nicht Halt macht. (DER STANDARD, Printausgabe, 24./25.5.2003)