Hauptsache Berge! Karlheinz Töchterle und Tobias Moretti im Garten des Grünwalderhofs am Fuße des Patscherkofels.

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"Es sind ja nur noch Wirtschaftler, die mit Hauspatscherln die Welt erklären", so Moretti.

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"Ideologie an sich ist ja nichts Verwerfliches. Ohne Ideengerüst bin ich haltlos", so Töchterle.

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STANDARD: Wir sind in Tirol, wo Sie beide leben. Was ist Heimat für Sie?

Moretti: Es ist die ursprünglichste Wurzel der Erinnerung, des Bewusstseins, eine Prägung durch Mentalität, und die ist entscheidend für das Wesen und auch für eine Geisteshaltung - ob sie sich nun gegen diese Abschussrampe richtet oder sie mitnimmt.

Töchterle: Da, wo alle Fäden zusammenlaufen, ist Heimat. Es ist das Zentrum meines Seins, wo ich sein will, wo meine Lieben sind, wo in konzentrischen Kreisen Freunde sind, und wo sich natürlich auch das nicht vom Menschen bestimmte Sein fokussiert. Für mich kann klarerweise Heimat nur da sein, wo Berge sind.

Moretti: Die Landschaft ist prägend, das stimmt, das muss dann auch nicht unbedingt politisch eingegrenzt sein, aber die Berge sind's in jedem Fall. Unmöglich, mich irgendwo hinzudenken, wo es die nicht gibt. Das könnte aber genauso gut irgendwo in Südamerika oder den Südalpen bei Bergamo sein, aber nicht in Erfurt, den Niederlanden oder so.

STANDARD:  Herr Moretti, Sie sagten anlässlich von Dreharbeiten einmal: "In Neapel spürt man eine unglaubliche Kraft, eine Archaik des alten Europas. Hier paart sich Dreck mit Poesie. Die Menschen lassen sich nicht verbiegen, sie leben nach ihren eigenen Gesetzen." Was würden Sie über Tirol sagen?

Moretti: Ich wäre sehr froh, wenn Tirol noch so wäre, denn bei uns in Nordtirol hat sich nicht nur durch die Zerrissenheit der politischen Situation, auch aufgrund der Zusammenschrumpfung durch Industriegebiete und einer falsch verstandenen Massen-Tourismusindustrie eine Verflachung der Mentalität ergeben, sie wird einfach nivelliert. Deswegen wäre ich froh, wenn's bei uns noch diese Divergenz gäbe, diese Dissonanz aus der Wurzel der Poesie und dem uns Eigentlichen, dem archaischen Menschsein. Da unten in Neapel hat man so ein ständiges Brodeln. Es ist keine Stagnation und nicht Harmonie, weil die ist fad. Auch wenn natürlich unsere Situation aus dem Chaos in eine sogenannte Ordnung entwachsen ist. Aber Österreich ist in der Mentalität der opportunen Bravheit, sozusagen des vorauseilenden Gehorsams, versunken. Das findet sich in allen politischen und gesellschaftlichen Lagern.

Töchterle: Ich widerspreche dem Tobias aus Freundschaft nur ungern, aber ich habe eine andere Sicht der Dinge. Natürlich ist ein pulsierendes, brodelndes Neapel schön zum Ansehen, ich war auch öfters dort, aber dort zu leben und den Preis zu zahlen, um dieses Brodeln ständig zu haben, das würde ich nicht wollen. Da lebe ich schon viel lieber bei uns in diesen sehr geordneten Verhältnissen. Opportunisten gibt es auf der ganzen Welt, aber auch Idealisten. Ich möchte bei Gott nicht alles schönreden. Das war ja der Grund, warum ich die Studentenbewegung 2009 positiv gesehen habe. Da haben junge Menschen ihren Idealismus hinausgelassen. Das war wichtig. Nur, als Politiker muss ich jetzt diesem Idealismus einen Rahmen geben. Ein Beispiel: Österreich hat einen freien Hochschulzugang. Eine wunderschöne Utopie. Aber der Traum zerschellt an der Realität und am Pragmatismus. Wir leben in einem der lebenswertesten Länder, und ich verstehe eigentlich nicht, warum man so unzufrieden ist.

Moretti: Unzufriedenheit ist nicht das, was ich meine. Ich bin auch dankbar, hier zu leben, aber um das zu erhalten, braucht es Bewegung und nicht ein regungsloses Sich-Anheimgeben an ein globales kapitalistisches Konzept. Mir kommt es so vor, dass wir uns in einem apathischen Vakuum der Ideenlosigkeit befinden, und der einzige gemeinsame Nenner, warum es noch irgendwie so dahinläppert, ist der Wohlstand, und ich denke, - weil ich ja auch Kinder habe -, dafür verkaufen wir uns und das Eigentliche gerade.

STANDARD:  Woher soll diese Bewegung kommen? Von Wutbürgern? Es gibt das Bildungsvolksbegehren. Oder von der Politik?

Moretti: Bildungsbewegung wohin? In einem System, das Bildung mit Ausbildung verwechselt. Das ist ja ein Glücksfall, dass wir einen Minister haben, der Altphilologe ist. Wo gibt's denn so was? Es sind ja überhaupt nur noch global denkende Wirtschaftler unterwegs, die mit Hauspatscherln den Weltlauf erklären. Auch globale Perspektiven und humanistische Konzepte haben mittlerweile das Niveau einer Charity-Veranstaltung. Es kommt einem so vor, dass alles nur noch politisch korrekt sein muss, anstatt dass man visionär ist und sagt, ok, benennen wir die Scheiße, damit das vielleicht zum Dünger wird und wieder was Neues erblüht, um das ganz agrartechnisch zu sagen.

Töchterle: Wenn man es als Weltanalyse sieht, was Tobias gesagt hat, teile ich vieles. Die Güter dieser Welt sind so ungerecht verteilt, dass es schmerzt. Ich muss aber sagen, ich bin über das Alter hinaus, wo ich meine, man könntes das alles ändern, ich habe da keine Illusionen.

STANDARD:  Darf ein Politiker das sagen?

Töchterle: Die Welt werde ich nicht ändern können. Ich versuche, da, wo ich was tun kann, was zu tun, deswegen bin ich ja auch Minister geworden: weil ich die Chance sehe, in dem kleinen Bereich, für den ich Verantwortung trage, was zu tun. Das war auch der Grund, warum ich früher in die Gemeindepolitik gegangen bin, weil ich da etwas bewegen konnte.

Moretti:Ich kann gleich wenig machen wie du. Meine Perspektive ist auch keine naive Kapitalnivellierung. Aber auch die politische Kultur in diesem Land huldigt quer durch alle Parteien einem gewissen kleinbürgerlichen Revanchismus, und das ärgert mich. Auf politischer und medialer Ebene geht es darum, dass der eine dem anderen eins auswischt.

Töchterle: Da bin ich bei dir. Das war auch mein Appell bei meiner Antrittsrede im Parlament. Viribus unitis - mit vereinten Kräften was zu tun. Und mein Schlusssatz war: Verlassen wir doch die ideologischen Bastionen und treten ein in einen Wettstreit der besten Ideen, damit wir gemeinsame Anliegen weiterbringen.

Moretti: Kann man mir erklären, wo es ideologische Positionen gibt in unserem Land? Jede Lobby will möglichst viel vom Kapitalkuchen für sich abschneiden, aber der Wert etwa von Arbeit wird immer ausgeklammert, auch im Sozialismus, der ja seine Existenzberechtigung mal aus dem Wert der Arbeit gezogen hat. Und im bürgerlichen Lager geht es verkrampft liberal zu, um nur nicht in den Verdacht zu kommen, man sei konservativ und direktiv, dann bricht gleich die Börse ein. Überall, auch bei den Grünen, vermisst man den Fokus auf die wesentlichen Fragen der Zeit: Was wird aus dem Vakuum morgen? Wie soll eine junge Generation ohne Perspektive so was wie Identität gewinnen? Deswegen wäre ich ganz froh, wenn ich irgendwo eine Art von Ideologie fände.

STANDARD:  Fragen wir den Politiker.

Töchterle:Ideologie an sich ist ja nichts Verwerfliches, im Gegenteil. Ich brauche ja, um eine Position zu beziehen, ein Ideengerüst, sonst bin ich haltlos. Insofern ist es ok und klar, dass es in einer Demokratie unterschiedliche Ideengerüste geben muss. Daraus resultieren unterschiedliche Interessen, die zu vertreten sind. Aber der Traum, dass man ohne Streit zwischen diesen Ideengebäuden agieren kann, ist unerfüllbar. Der Traum der konfliktfreien, harmonischen Demokratie ist irreal.

STANDARD:  Hatten Sie schon Rollenangebote als Politiker - nicht im Film oder auf der Bühne, sondern im echten Leben von Parteien?

Moretti: Von allen drei, und die andere kommt ja nicht infrage.

STANDARD: Kurz nachgedacht?

Moretti: Gedacht vielleicht schon, aber relativ bald verworfen. Ist nicht meine Aufgabe, weil ich die Kunst der Diplomatie nicht beherrsche und auch die Kunst des Kompromisses nicht suche.

Töchterle: Ich kann sehr gut verstehen, dass du die Kunst des Kompromisses nicht suchst. Das wäre für einen Künstler fatal. Der Politiker muss ihn ständig suchen.

STANDARD:  Herr Moretti, Sie haben am 6. Oktober im Residenztheater München Premiere mit Arthur Schnitzlers "Das weite Land". Da sagt Doktor Franz Mauer: "Es gibt vielleicht wirklich nur ein schweres [Wort] auf der Welt - und das heißt Lüge." Dürfen Politiker lügen?

Töchterle: Ich habe kürzlich gelesen, dass jeder Mensch jeden Tag lügt. Ich glaube, Gesellschaften werden auch, ich sage es jetzt ganz hart, durch Lügen funktionsfähig gehalten. Ein Politiker darf da, wo es wichtig ist, und wo er in seiner Funktion agiert, nicht lügen. Das wäre fatal, wenn er dort löge.

STANDARD:  Kann eine Lüge manchmal besser sein als die Wahrheit?

Moretti: Das glaube ich nicht, aber sie ist unumgänglich. Für jeden Menschen als Mensch.

STANDARD:  Was wollen Sie in Ihrem Leben unbedingt noch machen?

Töchterle (lacht): Deines ist noch länger, fang du an!

Moretti (lacht) Das weiß man nie. Aber was uns beide betrifft, weiß ich es. Ich würde mit dir wahnsinnig gern die eine Steilwand fahren.

Töchterle: Den Pfaffnwulst?

Moretti: Das ist eine Erstbefahrung, die der Minister einmal gemacht hat. Die ist so...(Hält die Hand fast vertikal).

STANDARD:  Herr Minister, was wollen Sie noch machen, außer dem, was Sie seit heute wissen, dass Sie es mit Herrn Moretti tun sollen?

Töchterle: Diese Steilhangabfahrt machen wir sicher noch. Ich möchte zum Beispiel noch Senecas Phädra übersetzen. Reclam hat mich eingeladen. Ich will es metrisch übersetzen, dass man es auch aufführen könnte. Ein kühnes Unterfangen meinerseits, aber das ist ein absolut tolles Stück.

STANDARD:  Und Sie, Herr Moretti?

Moretti: Ich werde den Teufel tun, die Parzen, die Schicksalgöttinnen, herauszufordern und Ihnen irgendetwas sagen, was ich machen möchte, weil dann wird's hundertprozentig nicht so sein.(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, Printausgabe, 30./31.7.2011)