Bild nicht mehr verfügbar.

Ein Jahr vor dem Ende: Michail Gorbatschow (li.) und Eduard Schewardnadse auf der KSZE-Konferenz 1990 in Paris.

Foto AP/Cironneau

Mit Schewardnadse sprach Tatjana Montik in Tiflis.

*****

STANDARD:Sie haben 1990 auf dem Parteitag der KPdSU vor der Diktatur gewarnt, die angeblich in Vorbereitung war. Gleich danach reichten Sie Ihren Rücktritt als Außenminister ein. Im August 1991 kam es tatsächlich zum Umsturzversuch, als orthodoxe Kommunisten alle Reformen rückgängig machen wollten. Woher hatten Sie solche Informationen, über die Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow offenbar nicht verfügte?

Schewardnadse: Ich hatte konkrete Informationen von konkreten Personen. Als Chef des Außenministeriums hatte ich immer offene Ohren für alles. Und die Diplomaten wussten wirklich viel, da sie enge Kontakte zu den Leuten vom Innenministerium und vom KGB unterhielten. Der Großteil der Informationen bestätigte sich später.

STANDARD: Jener Auftritt beim Parteitag dürfte der kürzeste in Ihrem Leben gewesen sein...

Schewardnadse: Das war er in der Tat. Ich sagte nur zwei, drei Sätze darüber, dass eine Diktatur im Anmarsch sei, dass niemand wisse, was aus der Perestroika werden würde. Als ich fertig war, gab es viel Applaus. Offenbar haben auch andere gespürt, dass etwas Schlimmes in Vorbereitung war.

STANDARD: Wie hat Gorbatschow reagiert?

Schewardnadse: Unzufrieden. Er sagte: "Ich bin Generalsekretär, und die ganze Information befindet sich in den Händen des Generalsekretärs. Und dabei weiß ich nichts, und er weiß alles!" Damals ist auch Alexander Jakowlew (Vertrauter Gorbatschows und Mitarchitekt der Perestroika, Red.) zurückgetreten. De facto war Gorbatschow allein. Boris Jelzin (späterer Präsident Russlands, Red.) hatte schon damals an Einfluss gewonnen. Doch die Gefahr einer Diktatur blieb bestehen.

STANDARD: Was wussten Sie von den Plänen der Putschisten?

Schewardnadse: Der damalige Vize-Präsident Gennadi Janajew hatte folgende Pläne: Gorbatschow ist Mitte August auf seiner Datscha in Foros auf der Krim, man würde die Macht ergreifen, und Gorbatschow würde lediglich formaler Präsident bleiben, während Janajew richtiger Präsident werden würde. Die Putschisten hatten fertige Listen, mit wem nach der Machtergreifung abzurechnen war. Der Name Schewardnadse stand auf Platz zwei.

STANDARD: Wessen Name stand auf Platz eins?

Schewardnadse: Diese Frage möchte ich nicht beantworten.

STANDARD: Wie sehen Sie die Rolle Gorbatschows während des Putsches? Es gibt Mutmaßungen, dass er kein Opfer jener Ereignisse, sondern Mittäter war.

Schewardnadse: Ich kann nicht glauben, dass Gorbatschow nichts wusste. Davon, dass er über entsprechende Informationen verfügte, zeugt seine Erklärung, die er vor den Parteiaktivisten in Minsk einige Monate nach meinem Rücktritt abgab. Er sagte, die Gefahr einer Diktatur sei gegeben, und rief alle dazu auf, die Perestroika zu unterstützen und wachsam zu bleiben. Doch was machte er daraufhin? Er fuhr auf die Krim, um sich zu erholen.

STANDARD:Erinnern Sie sich an besonders interessante Details vom August 1991?

Schewardnadse: Ich wohnte ganz in der Nähe des Weißen Hauses (Sitz der Regierung in Moskau, Red.). An einem jener Tage ging ich dorthin, um Jelzin zu besuchen. Der ganze Platz vor dem Weißen Haus war voller Menschen. Als mich jemand erkannte, fingen alle an, begeistert zu skandieren: "Schewardnadse ist mit uns!" Ich ging in den dritten Stock in Jelzins Zimmer und fragte ihn: "Boris Nikolajewitsch, was wird nun aus der Sowjetunion, was wird aus Russland werden?" Statt einer Antwort zeigte er mir seinen Ukas "Über die Unterordnung der gesamten Armee in den Zuständigkeitsbereich des russischen Präsidenten". Ich las dieses Dokument durch, und Jelzin fragte mich: "Glauben Sie, ich soll ihn unterzeichnen?" - "Natürlich!" sagte ich. "Denn später wird es schon zu spät sein." Er unterzeichnete ihn, und das war der entscheidende Wendepunkt, denn das Gros der sowjetischen Truppen befand sich auf russischem Territorium.

STANDARD:Wie war die Stimmung im Politbüro?

Schewardnadse: Ich war während des Putsches ja kein Mitglied des Politbüros. Aber ich weiß ganz genau, dass zu Beginn der Perestroika fast alle Mitglieder des Politbüros für die Erhaltung des Regimes waren. Die meisten waren gegen jegliche Erneuerung. Ich hatte aber schon immer im Gespür, dass die Sowjetunion früher oder später zerbrechen würde. Als Außenminister gab ich der Sowjetunion höchstens zehn bis fünfzehn Jahre. Ich habe mich nur in der Frist geirrt.

STANDARD:Der Putschversuch beschleunigte den Zerfall der Sowjetunion. Wäre er abzuwenden gewesen?

Schewardnadse: Es gab zwei Personen, von denen das Schicksal der Sowjetunion abhing: Jelzin und Gorbatschow. Sie haben einander gehasst. Wie sehr Jakowlew und ich uns auch bemühten, sie miteinander zu versöhnen, es war sinnlos. Die Gegensätze zwischen diesen zwei Personen haben das Ende der Sowjetunion beschleunigt.

STANDARD: Hätte die Sowjetunion vielleicht eine Zukunft als Konföderation gehabt? Vor dem Putsch wurde ja ein solcher Vertrag vorbereitet.

Schewardnadse: Ich glaube nicht, dass das geholfen hätte. Ich kehre kurz zum Anfang der Perestroika zurück. Der Impuls für eine Wende war die Erklärung von US-Präsident Ronald Reagan über die Schaffung von kosmischen Atomwaffen ("Star-Wars-Rede" 1983, Red.). Unsere Wissenschafter schlossen daraus, dass die Amerikaner solche Waffen bereits in zehn Jahren konstruieren könnten, während die Sowjetunion dafür 20 bis 25 Jahre brauchen würde. Nach dieser Schlussfolgerung haben Gorbatschow und ich beschlossen, die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu verbessern, was zum Ende des Kalten Krieges führte. Dadurch wurde auch die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht.

STANDARD:Angeblich war Gorbatschow am Anfang dagegen.

Schewardnadse: Jedes Mal, wenn man ihm diese Frage stellte, schaffte er es, sich vor der Antwort zu drücken. Er sagte weder Ja noch Nein. Als ich ihn von der Außenministerkonferenz über "Open Skies" (Transparenz im Luftverkehr) im Februar 1990 aus Ottawa anrief und ihm sagte, alle anderen seien im Prinzip dafür, vergingen zunächst einige Minuten, Gorbatschow schwieg. Dann sagte er: "Gut, dass diese Frage ausgerechnet beim Treffen der Außenminister aufgeworfen wurde. Denn die Präsidenten hätten sie niemals positiv beantwortet. Ich gebe Ihnen meine Unterstützung."

STANDARD:Wie sehen Sie als ehemaliger Präsident Georgiens die Zukunft der russisch-georgischen Beziehungen?

Schewardnadse: Wir müssen um jeden Preis unsere Beziehungen zu Russland verbessern. Denn Russland ist unser größter Nachbar. Und wenn es einen entsprechenden Ukas geben sollte, könnte Russland Georgien in wenigen Stunden besetzen. Das hat Russland bereits einmal gemacht. Und nur Dank der Einmischung der Europäer und der Bemühungen des französischen Präsidenten Sarkozy haben die Russen ihre Truppen abgezogen - mit Ausnahme der Region Zchinwali (gemeint Südossetien) und Abchasiens.

STANDARD:Glauben Sie, Georgien könnte diese abtrünnigen Gebiete einmal zurückbekommen?

Schewardnadse: Ganz bestimmt! In fünf bis zehn Jahren wird es dazu kommen. Denn Russland hat einen groben Fehler begangen, indem es einen gefährlichen Präzedenzfall schuf und die Unabhängigkeit Abchasiens und der Region Zchinwali anerkannte. Denn wenn ein winziges Ossetien Anrecht auf Unabhängigkeit hat, warum sollen sich das nicht auch Tschetschenien oder Dagestan oder ein ölreiches Tatarstan erlauben?

STANDARD:Heißt das, Sie schließen eine Wiederholung der Ereignisse von 1991 in Russland nicht aus?

Schewardnadse: Ich schließe weder eine Wiederholung des Putsches noch den Zusammenbruch Russlands aus. Bei einem drohenden Zerfall der Russischen Föderation könnte es durchaus Versuche geben, den Status quo mit Hilfe eines Staatsstreiches zu erhalten. (DER STANDARD, Printausgabe, 30.7.2011)