Eine neue Kosovo-Krise mit gegenseitigen Schuldzuweisungen beschäftigt die Europäische Union und rückt in den Mittelpunkt der Berichterstattung über Südosteuropa. Die Sorge um die Folgen der gewaltsamen Auseinandersetzungen an zwei Grenzübergängen von Kosovo zu Serbien aus scheinbar nichtigen Anlässen, wie das Akzeptieren von kosovarischen Zollstempeln, ist berechtigt. Das Ringen um die Zukunft der einstigen serbischen, aber seit vielen Jahren überwiegend von Albanern bewohnten Provinz - etwas kleiner als Oberösterreich - erwies sich nämlich immer wieder als Lunte am Pulverfass Balkan.
Heute geht es aber nicht mehr um die Freiheit der Albaner, die über 90 Prozent der 1,7 Millionen Einwohner des seit Februar 2008 unabhängigen Kosovo ausmachen, sondern um die Rechte der 100.000 bis 120.000 verbliebenen Serben und die Autonomie ihrer Siedlungsgebiete. Rund 40. 000 bis 60.000 Serben leben allerdings im Norden Kosovos, in einer Region, in der die Zentralregierung in Pristina auch in den letzten dreieinhalb Jahren weder die Verwaltung noch die Grenzen unter ihre Kontrolle bringen konnte. In diesem Landesteil haben kriminelle Organisationen und serbisch-albanische Schmugglerbanden das Sagen. Man schätzt übrigens, dass der illegale Drogenhandel bereits ein Viertel des Bruttosozialproduktes der gesamten Provinz ausmacht.
Behauptungen mancher westlichen Krisenmanager, dass der Kosovo eine "Erfolgsstory" sei, sind freilich ebenso absurd wie die Beschreibung der jüngst abgebrochenen technischen Gespräche zwischen Serbien und der Regierung Kosovos als einen "Durchbruch". Der unabhängige Kosovo ist zwar eine von 77 Staaten anerkannte Realität, die allerdings nicht nur von Serbien, sondern auch von Russland und China, sowie von fünf EU-Staaten (Spanien, Slowakei, Zypern, Rumänien, Griechenland) abgelehnt wird.
Die Serben im Norden Kosovos hoffen auf eine Vereinigung mit Serbien. Eine insgeheim erhoffte Teilung der umkämpften Provinz wäre freilich ein folgenschwerer Kniefall vor extremen Nationalisten und ein verhängnisvolles Beispiel für andere Krisenherde auf dem Balkan.
Beim Pochen des kosovarischen Ministerpräsidenten Hashim Thaçi "auf die Durchsetzung der staatlichen Souveränität auf dem gesamten Staatsgebiet", also auch auf die Kontrolle der zwei Grenzübergänge zu Serbien, geht es in Wirklichkeit auch um die Furcht, dass nach der Auslieferung aller wichtigen Kriegsverbrecher an das Tribunal in Den Haag Serbien letzten Endes der EU beitreten könnte, ohne die Unabhängigkeit des Kosovo anzuerkennen. Die gemäßigte serbische Führung um den kompromissbereiten Staatspräsident Boris Tadic ist wiederum besorgt, als Protektoren der gewalttätigen serbischen Extremisten im Nordkosovo diskreditiert zu werden.
Nur ein entschlossenes Handeln der EU kann den dornenvollen Weg zu einer politischen Lösung ebnen. Zu Recht wies aber die grüne Europa-Abgeordnete Ulrike Lunacek im Standard auf die "notorische Uneinigkeit" der EU hin. Ohne die Anwesenheit der nur noch 5000 Mann starken internationalen Schutztruppe könnten Zusammenstöße aus nichtigen Anlässen jederzeit zu einem Blutbad führen. (DER STANDARD Printausgabe, 2.8.2011)